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when we leave

Deciding to live against oppression; as the person you want to develop out of your experiences. How does this expression look like?

 

– HERKUNFT KUNST KAMPF // Warum mache ich Kunst?

Ich bin plötzlich in dem Künstlerdorf Worpswede aufgewacht. Irgendwie, zufällig, weil meine Eltern, die vor 27 Jahren aus der Türkei als Kurden nach Deutschland kamen, in irgendein Dorf gepackt wurden. Eben dorthin, wo Platz war. Dort gab es nicht viele Migrant*innenfamilien, so war man als diese interessant für die meisten Bewohner*innen des Dorfes. In der Grundschule stieß ich das erste Mal auf die Geschichte der Künstlerkolonie Worpswede und lernte die Namen Rainer Maria Rilke und Paula Modersohn-Becker kennen. Letztere wurde uns aufgetragen abzumalen, zu kopieren.

15 Jahre später stehe ich hier. Bin Kunststudentin an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und frage mich: Welche Parallelen gibt es zwischen mir und Modersohn-Becker?
100 Jahre später bin ich wie sie es war, eine Rebellin, eine Kämpferin, gegen die Normen und das Weltbild meiner Eltern. Mich wie sie bewegte eine Dringlichkeit. Ich mache Kunst, weil ich muss. Ich sollte keine Kunst machen. Meine Mutter sagt. Die Männer in der Kunstwelt sagen. Die Kunstwelt sagt. Der Islam meiner Eltern sagt. Aber ich mache. Ich sehe. Fotos machen bedeutet für mich auch Beweise zu schaffen, für die Dinge, für meine Neugierde selbst. Es ist auch ein Kampf um die Akzeptanz als Frau in der Kunstwelt. Die Kunstwelt, die mich als „Migrantin“ sehen möchte, als die ich mich gar nicht fühlen möchte. Ich im 21. Jahrhundert gegen die Unterdrückung der Frau und sie als Expressionistin im 20. Jahrhundert gegen das patriarchale System in Deutschland. Das Ringen um Deutungshoheit, wer sagt mir, wer ich bin?

Die einzige Sprache, um mich mit meinen Eltern zu verständigen, verstehe ich kaum noch, kann sie kaum anwenden. Habe ich sie abgelegt? Abgelegt wie die Identität, die mir gegeben wurde, die elterliche, die meiner Mutter, die sie wollte, die ich werde? Und trotzdem trage ich sie in mir. Auch wenn ein Teil in mir sich dagegen wehrt, ambivalent ist. Zur Rebellion gehört auch Wut. Ich bin verdammt wütend. Meine Kunst ist ein Auffangbecken für meine Wut. Ich befreie mich von ihr und gebe ihr Form. Es entstehen Skulpturen, die eine Nacktheit formen, zu der ich mich selber nicht im Stande fühle. Die Nacktheit, die mich in deren Augen zur Schande machen sollte. Es ist meine eigene Nacktheit, meine eigene Sexualität, die ich versuche zum Ausdruck zu bringen. Mit Gewalt schlage ich auf das Formbare, was sich wandelt zum Zerbrechlichen. Eine zerbrechliche Tonfigur, die einem Körper/Genital/Organ gleicht, das den Blicken ausgesetzt ist. So wird schließlich meine Scham zur Befreiung. Ich befreie mich durch die Scham. Dabei ist der Prozess der ''Handlung'' wichtig. Während ich dies schreibe, frage ich mich, bedarf der Drang danach Kunst zu machen, überhaupt nach irgendeiner Erklärung? Und trotzdem suche ich nach dem Warum, weil ich soll ja. Man will ja lesen, warum. Es solle ja verstanden werden. Es soll ja Bedeutung haben. Vielleicht ist der Ursprung nicht (meine) Vergangenheit, sondern der Drang dem Empfinden des Jetzt, dem Verletzbaren und dem Fragilen Gestalt zu geben, zu sagen, zu zeigen: Es ist da und geht nicht mehr weg!

 

 

Cihan Cakmak schloss 2017 ihren Bachelor in Fotografie an der Fachhochshule Dortmund ab. Sie ist Stipendiatin der Friedrich Ebert Stiftung und bildete sich nach ihrem Bachelor in Lissabon an der IADE und in New York am International Center of Photography weiter. Aktuell lebt sie in Leipzig und studiert Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst.


Photography: Cihan Cakmak

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