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Rezension

„Alles über … blutbefleckte Laken, Jungfräuliche Mythen, Reißende Samthaargummis, Elastische Frischhaltefolie, Stoßende Schwerter, Geraubte Blumen, Ausgeleierte Muschis, Angebissene Äpfel, Lüsterne Heilige & Patriarchale Könige.“

Diese Aufzählung prangt auf dem Umschlag des Heftes „Das Jungfernhäutchen gibt es nicht“ aus dem Hause Maro. Man könnte meinen, damit sei alles gesagt; man könnte meinen, der Titel spoilert ja schon alles Wichtige. Allerdings hat man dann die Rechnung ohne die Autorin Oliwia Hälterlein gemacht, die das „breitbeinige Heft“ zu einem kompakten Umschlagplatz des Schleimhautwissens macht.

In zwölf Kapiteln beschäftigt sich Hälterlein mit dem Hymen, auch bekannt als „Jungfernhäutchen“ - ein Aufklärungsgespräch, das laut der Ausführungen der Autorin leider immer noch nicht ausreichend geführt wurde. Denn absurderweise ist das Bild von einem frischhaltefolieartigen Häutchen, das die Öffnung der Scheide verschließt und Frauen* den Stempel „unbenutzt“ aufdrückt, tief in der Gesellschaft verwurzelt. Aber gleich mal vorweg: Im echten Leben wird beim ersten Geschlechtsverkehr im Körper der Frau* nichts durchstoßen, weil es überhaupt nichts gibt, was durchstoßen werden kann. Der wirklich bescheuerte Mythos vom blutigen Laken beim ersten Mal – einige Frauen* haben sich es wahrscheinlich schon gedacht – findet seinen Ursprung darin, dass in früheren Zeiten häufig sehr junge Frauen* beziehungsweise Mädchen* mit älteren Männern* verheiratet wurden und mit diesen Sex haben mussten. Mehr Informationen zum Mythos Blut im Bett und seiner Entkräftung bietet Oliwia Hälterlein beispielsweise in den Kapiteln „Wer hat Angst vorm ‚ersten Mal‘?“ und „Rote Laken und Rinderblut – eine Familientradition“. Darüber hinaus beschäftigt sich das Heft mit der Vorstellung von "Jungfräulichkeit" im Allgemeinen und der unterschiedlichen Wahrnehmung derselben bei Mann* und Frau*, wie viel die vermeintliche Rekonstruktion eines Hymen kostet und warum Frau* dringend neue Begriffe für die Selbstbezeichnung desselben braucht.

Der sprachsensible Umgang mit dem Thema ist Oliwia Hälterlein dabei äußerst gelungen. Neben genderneutraler Sprache sowie Markierungen setzt sich die Autorin kritisch mit den Begriffen auseinander, die zur Bezeichnung des Schleimhautkranzes im Allgemeinen zur Verfügung stehen:

„Wie ist es möglich, den Mythos ‚Jungfernhäutchen‘ zu de-konstruieren, ohne ihn mit der gewohnten Wortwahl zu re-produzieren.“ (S.17.)

Das Heft erhebt dennoch nicht den Anspruch, Neologismen einzuführen, um die Problematik aus dem Weg zu räumen; die Autorin entscheidet sich für eine grafische Darstellung. Dies geschieht zunächst selbstverständlich, was zu einem kurzen Stolpern im Leseflow führt – die nachfolgende Erläuterung im Kapitel „Von Kronen und Kränzen“ zeigt aber, dass diese Irritation absolut notwendig ist und einen Diskurs über Bezeichnung, Form und Existenz eröffnet.

„Das Jungfernfernhäutchen gibt es nicht“ ist harte Aufklärungsarbeit: Oliwia Hälterlein macht Zahlen und Statistiken zugänglich, belegt das Geschriebene mit Ergebnissen aus Studien und Forschungsarbeiten. Alle mit Fußnoten markiert und als Sekundärliteratur im Umschlag des Heftes aufgeführt. 31 Stück sind es. Ergänzt werden die Kapitel durch persönliche Einblicke eines Ichs, das sich versucht, dem eigenen Schleimhautkranz anzunähern. Auch die bunten Illustrationen von Aisha Franz bilden ein passendes und dennoch auflockerndes Pendant zum Inhalt des Hefts. Und auch hier dominiert "das Häutchen" in jedem Bild. Ein Poster als Beilage im Heft sorgt dafür, dass Leser*innen dem Diskurs auch zu Hause einen Platz einrichten können. Eine schöne Idee für zukünftige Besuche. Denn, wenn wir alle Gäste direkt mit einem Schleimhaut-Schnack begrüßen, dann sind die von Oliwia Hälterlein zusammengefassten Fakten sicherlich schnell in wirklich aller Munde. Und so endet eben auch das Heft des Maro Verlags mit einem Aufruf seitens der Autorin:

„An alle Mediziner*innen: Schreibt die Bücher neu! An alle Könige des Südens, Ostens, Westens und Nordens: Runter vom Thron! An alle Leher*innen: Benennt die Körperteile anatomisch richtig! An die Pornoindustrie: Schmeißt das Kunstblut auf den Müll! An alle Eltern und Freund*innen: Schleimhaut-Talk!“

Fünf von fünf . (Anm. d. Red.: Die hier dargestellte Version stammt nicht aus dem Heft des Maro Verlags, sondern entspringt der eigenen kreativen Arbeit der Rezensentin).

Oliwia Hälterlein: Das Jungfernhäutchen gibt es nicht. Ein breitbeiniges Heft. Illustrationen von Aisha Franz, MaroHeft #2, Maro Verlag 2020.



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