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Das Missverständnis

Von Matthieu Jimenez

„Und die Milch?” fragt sie.
„Die Milch?”
„Ob du an die Milch gedacht hast?”
„Ich wusste nicht, dass wir auch Milch brauchen.”
      Sie schnauft und legt das Messer, mit dem sie eben noch die Zucchini geschnitten hat, auf den Tisch. Ich sehe, dass sie sich ärgert. Sie guckt hoch, irgendwo nach oben, an die Decke, und schweigt. Ich stehe vor dem Tisch, an dem sie sitzt, stehe vor ihr und schweige zurück.
    „Wenn ich gewusst hätte, dass wir welche brauchen, dann hätte ich welche mitgebracht.” sage ich nach einer Weile. Von draußen höre ich den aufbrausenden Motor eines Autos, vielleicht ist es auch ein Motorrad, das vorbeifährt. Sie antwortet nicht, sondern guckt immer noch an diese eine Stelle über meinem Kopf. Obwohl ich weiß, dass da nichts ist, außer der Glühbirne und zwei oder drei Kabel und der Decke, aus der sie gestochen kommen, würde ich auch gerne hingucken, vielleicht einfach nur, um ihr zu zeigen, dass ich ihn bemerke, ihren wütend-leeren Blick nach da oben an die Decke.
     „Ich meine,” sage ich irgendwann, “ich habe ja sonst alles besorgt, was ich kaufen sollte.” Ich mache einen Schritt auf den Tisch zu, wo sie immer noch regungslos sitzt. Vor ihr liegt das Schneidebrett. Es ist grau und aus irgendeinem Plastikmaterial, sodass da, wo man mit zu viel Druck schneidet, richtige Kerben zu sehen sind. Unpraktisch ist das, finde ich, habe ich von Anfang an gedacht, aber man braucht schließlich ein Schneidebrett und sie und ich waren bei IKEA, und sie hat gesagt, wir sollten einfach das graue Plastikding mitnehmen.

Ich drücke den Brustkorb raus, schiebe die Schultern ein bisschen zurück und gehe langsam bis an die Tischkante. Zwischen uns liegt das, was ich vorhin eingekauft und eben aus der Tüte geholt habe: Schokomüsli, eine Packung Kaffee, drei rote Paprika, ein kleines Stück Ingwer, Chiligewürz, Spülmittel, vier Becher griechischer Joghurt und eine Hand Bananen. Das nennt man wirklich so, Bananenhände, das habe ich letztens erst irgendwo gelesen. Erst hat sie mir nicht geglaubt, als ich ihr das abends gesagt habe, wir wurden beide zickig, haben ein wenig gestritten, sie hat ihr Handy gesucht, gegoogelt und gesehen, dass ich recht hatte. Dann haben wir uns wie immer darauf geeinigt, dass wir doch beide irgendwie recht hatten, jeder auf seine Art eben, und sind uns den Rest des Abends aus dem Weg gegangen. Entschuldigt dafür, dass wir uns wegen der blöden Bananenhände angezickt haben, hat sich niemand.
     Ich betaste die Einkäufe, fasse jeden einzelnen einmal kurz an, schiebe alles bisschen auseinander und verteile die Artikel auf dem Tisch. „Siehst du,“ sage ich dann, „Paprika, Ingwer, Chili, Spüli, Joghurt, Bananen und das andere Zeug fürs Frühstück, genau wie du mir geschrieben hast.“ Ich versuche, sicher, aber nicht zu stolz dabei zu klingen, obwohl ich eigentlich weder das eine noch das andere bin. „Bananen und Joghurt?“ fragt sie und schielt vor sich auf den Tisch. Sowohl ihre Stimme, als auch ihr Blick lassen mich sofort spüren, dass ich was falschgemacht habe. „Und das andere Zeug fürs Frühstück?“ fügt sie noch hinzu, obwohl das schon gar nicht mehr nötig gewesen wäre.
     Plötzlich habe ich keine Lust mehr hier zu stehen, habe keiner Lust mehr mit ihr zu reden und mich zu rechtfertigen für die Sachen, die ich fälschlicherweise Weise, aber in guter Absicht, eingekauft habe. Es ist still in unserer Wohnung, das weiß ich, weil es immer still ist, aber in meinem Kopf, da brummt es, da rauscht es, als ob fünfzehn Kräne und hundert fleißige Arbeiter dabei wären, die Grube einer Baustelle auszuheben.

„Ja.“ sage ich nur, und am liebsten würde ich sonst gar nichts mehr dazu sagen, mich umdrehen und den Raum verlassen. Aber ich bleibe einfach so stehen, wie festgekettet vor den armseligen Einkäufen, die ich mit nach Hause gebracht habe, und höre nichts, außer des Krachs in meinem Kopf.
    „Sachen, die wir morgens frühstücken können eben.“ sage ich irgendwann. Eigentlich sage ich das gar nicht so richtig, ich denke es eher, murmle es nur so vor mich hin, und als ich ihren irritierten Blick auf mir spüre, weiß ich, dass sie mich nicht verstanden hat. Natürlich erinnert mich das gleich wieder an letzte Woche, an die Sache mit ihren Eltern. Und an den Abend letztens, als das mit dem Handy war, oder an das Mal, wo wir beide richtig geschrien haben, wo sie so wütend war, dass sie einen Teller gegen die Wand geworfen hat. Für einige Minuten war es da richtig laut in unserer Wohnung. Unsere Stimmen haben die Räume gefüllt und sind von der Küche bis ins Wohnzimmer an jeder Wand lang getobt wie ein zorniger Sturm, der nichts als Verwüstung hinterlässt.
    „Aber“ sagt sie irgendwann und redet dabei klar und deutlich, „was ist mit der Milch?“
Ihre Augen sind jetzt auf mich gerichtet, starr bohrt sich ihr Blick in mich und ich versuche, sie genauso fordernd anzugucken, wie sie mich. Wie schön wäre es, wenn das alles hier nur ein Spiel wäre? So wie früher, das Spiel, bei dem derjenige verloren hat, der als Erstes blinzelt. Wenn wir jetzt noch kurz so dastehen würden, während unsere eisernen Blicke in der Luft aufeinanderprallen, und dann sie oder ich oder wir beide laut loslachen würden? Wenn wir gar nicht wieder aufhören könnten zu lachen, vor lauter lachen nicht sprechen könnten und uns die Tränen kommen würden? Aber das hier ist kein Spiel. Irgendwann hört man auf, solche Spiele zu spielen, und aus Spaß wird Ernst, und deswegen lacht jetzt niemand, weder sie noch ich.
    „Ich sage doch:“ antworte ich schließlich so ruhig und langsam ich kann, „Ich wusste nicht, dass wir Milch brauchen. Sonst hätte ich welche gekauft. Ich habe doch sonst alles besorgt, was ich mitbringen sollte.“

Mit der Hand mache ich eine Bewegung, die auf die Einkäufe zeigen soll. Wie sehr ich diese Einkäufe hasse, denke ich, und schweige. Der Krach ist auf einmal weg und ich höre nur meine Atmung, höre, wie die Luft auf meiner Nase pustet, sonst nichts.
    „Aber wir brauchen doch nur Milch.“
    Ihre Stimme ist jetzt lauter als eben gerade noch und außerdem kräftig und irgendwie entschlossen. Ich weiß, dass ihr Blick immer noch genauso eindringlich und erbittert auf mich gerichtet ist, aber ich gucke nur noch runter auf den Tisch, beobachte die Ingwerknolle ganz genau dabei, wie sie einfach nur daliegt, ein passiver Beobachter der Außenwelt.
    „Woher soll ich das denn wissen, wenn du es mir nicht sagst?“ frage ich, obwohl ich genau weiß, dass das ein Fehler ist. Im Vergleich zu, wenn ich das Richtige tue, weiß ich das meistens ziemlich gut, wann die Sachen, die ich mache oder sage, falsch sind, und jetzt gerade bin ich mir ganz sicher, dass es schlauer gewesen wäre, einfach den Mund zu halten. Aber ich will den Mund nicht mehr halten, will den Mund zumindest dieses Mal nicht halten, will noch was sagen, bevor es wieder still wird ums uns herum.
    „Aber was ist das denn alles für Zeug? Das haben wir doch alles noch da. Ingwer, Müsli, und Kaffee haben wir sogar noch zwei volle Packungen. Aber keine Milch, die ist leer.“

Plötzlich guckt sie mich nicht mehr an, sondern guckt wieder runter auf das Schneidebrett. Sie nimmt das Messer, schiebt die Karotten auf das Brett und rammt schwungvoll das Messer rein.
     „Deswegen habe ich dir gesagt, dass wir Milch brauchen. Fürs Frühstück.“ sagt sie, schiebt die geschnittene Karotte zur Seite und greift sich gleich die nächste.
     Wie eigentlich immer in der letzten Zeit, bin ich erschöpft, bin müde, habe keine Lust und keinen Antrieb, mich schon wieder zu streiten. Meine Augen brennen und ich sehne mich danach, sie zu schließen, im Bett zu liegen und endlich zu schlafen. Zwar träume ich fast jede Nacht schlecht, aber wenigstens bin ich für ein paar Stunden woanders, verschwinde in eine andere Welt und vergesse alles, die Wohnung und die Einkäufe und die Wirklichkeit, der sie angehören.
     „Du hast gesagt, ich soll Zeug fürs Frühstück kaufen. Das habe ich gemacht.“ sage ich, anstatt mich umzudrehen und die Küche zu verlassen.
     „Milch fürs Frühstück. Milch, kein Zeug, habe ich gesagt!“ ruft sie und knallt das Messer auf den Tisch. Dann sagt sie nichts mehr und auch ich schweige, und so bleiben wir noch eine Weile, bis uns die Stille wieder umhüllt, sich um uns legt wie ein milchiger Schleier direkt vor unseren Augen, und die Zeit sich entschlossen hat, weiter zu vergehen.

Matthieu Jimenez lebt in Berlin. Sein Debütroman „Die Berechnung des Wahnsinns“ erschien 2019 im Autumnus Verlag. Ein Ausschnitt davon wurde in die Anthologie des fünften Bubenreuther Literaturwettbewerbs aufgenommen. Ein weiterer Text wurde in der 52. Ausgabe des Magazins „& Radieschen“ abgedruckt. Jimenez schreibt Gedichte, Erzählungen, Kurzgeschichten und Romane.


Text: Matthieu Jimenez | Foto: Matthieu Jimenez

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