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Du bist niemals fortgegangen

Wenn ich dir schreibe, bin ich da wo du nicht bist.
Meine Schrift schreibt sie sich in die Wasserwirbel unter der unsichtbar gewordenen Wellenlinie des Flusses. Ich sehe den zerrissenen Rauchfahnen der Schiffe nach, als könnten sie mir den Ort zeigen, an dem es dich gibt. Vielleicht gibt es diesen Ort. Vielleicht hat es ihn auch nie gegeben. Das Gesicht einer alten Frau, die an mir vorübergeht, erzählt davon. Die flachen Bögen des Lichts auf den Uferwiesen erzählen davon. Jeder Geruch erzählt davon, seitdem du fort bist.
Ich gehe am Fluss entlang. Meine Schritte sind schwerfällig. Was ich  mit meiner Sprache verberge, spricht mein Körper aus. Ich dulde, ohne mich abzufinden, ich harre aus, ohne mich zu gewöhnen. Manchmal ist nichts als dieses Bild in mir, in dem meine Abwesenheit wie in einem Spiegel eingefangen ist.

Ich gehe fort.
Dein Satz zeichnet eine unverrückbare Grenze in den Raum. Er atmet in meinen Fingerspitzen, die einen schlafenden Schatten in deine Haut und in die Gesichter der Nacht zeichnen. Es ist dunkel, aber es gibt nichts, was ich nicht sehe. Ich sage nichts. Ich lege meinen Atem auf deinen Mund. Meine Zungenspitze furcht winzige Krater in die Senken und Gräben deiner Haut, bis dorthin, wo ich dich noch riechen kann. Bis dorthin, wo nichts mehr zu sagen ist.
Ich gehe fort.
Du sagst das, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, aber ich höre wie deine Stimme zittert. Meine Zunge malt diesem Satz andere Farben, meine Lippen saugen ihn auf, aber von dem Ort, wo ich war, bleibt nichts mehr als für Augenblicke ein feuchter Schimmer, einfliehender Schatten auf der Oberfläche deiner Haut. Ich halte den Atem an, spüre wie der Zeiger der Uhr langsam einen flachen Bogen ins Nichts beschreibt.
Es ist dunkel. Das Licht der Scheinwerfer tastet über unsere Körper. Dein Atem wird ruhiger. Deine Stimme ist eine schwarze Spur in die Zeit.
Du sagst, dass es ja nicht für lange wäre. Überall sei zu lesen, dass der Krieg nicht lange dauern würde. Vielleicht nicht das ganze Jahr. Vielleicht nur ein paar Monate. Aber ist es nicht das, was sie immer sagen? Mir kann nichts passieren, sagst du, weil du ja auf mich wartest. Die Lichtschimmer wandern über dein gefrorenes Lächeln. Ich nicke. Du sagst, dass du jeden Tag schreiben wirst und dass unsere Briefe von einem Ende der Welt zum anderen wandern, bis alles vorbei ist, und du sagst, was du alles tun wirst, wenn du wieder hier bist, weil man das immer sagt, denke ich, aber ich nicke nur und lege meinen Kopf auf deine Brust und fange an zu warten.
Ich will nicht, dass es dauert, ich will, dass es gleich passiert, aber es dauert. Eine Woche, zwei Wochen, dann ist dein Einsatz da. So weit fort, dass ich nicht daran gedacht hatte, dass ich es für unmöglich hielt, dass das alles auch etwas mit uns zu tun haben könnte.

Ich rieche den Regen. Die Muster der ersten Tropfen zerlaufen auf dem Asphalt. Alles was geschieht, erscheint mir wie eine Wiederholung dessen, was in den vergangenen vier Wochen passiert ist. Es ist, als hätte sich mein Leben in dieser Zeit erschöpft. Es ist, als hätte ich nur in diesen Tagen wirklich gelebt, Verlangen gespürt, Schmerz, Sehnsucht, Hoffnung. Der Regen glänzt in meinen Haaren. Ich laufe schneller. Ich renne. Die Uferwiesen atmen unter den Winterschatten des Märzlichts. Wo bin ich?
Wo bin ich, stelle ich mir immer vor, würde die erste Frage in deinem Brief lauten.
Ich setze mich in den Bus und fahre nach Hause. In meiner Manteltasche spüre ich das Gewicht deiner Briefe. Sechs, sieben, acht zählen meine Fingerspitzen unter der Paketschnur, die sie zusammenhält. Ich fahre weiter, als ich eigentlich müsste. Ich habe Angst, dort anzukommen, wo mich nichts mehr schützt vor meiner Erinnerung.
Irgendwo hinter mir klingelt ein Handy. Ich stelle mir den Duft deiner Haut vor. Als du gegangen warst, habe ich die ersten Nächte nur auf deinen Anruf gewartet, bis ich aus der Zeitung erfuhr, dass sie euch alle Anrufe verboten haben.
An der Haltestelle vor dem Park steige ich aus. In den Schaufenstern des Elektromarkts flimmern die Bilder eines Krieges, den niemand so nennen mag, aus den Fernsehern. Ein Sprecher weist auf eine Karte mit den Namen von Ortschaften, Bergen und Flüssen, bei denen ich mir nicht vorstellen kann, dass du dort gewesen sein sollst. Das Bild zerfällt in ein anderes Bild. Man sieht einen zerschossenen weißen Lieferwagen am Straßenrand, daneben die Leichen von Frauen und Kindern. Die Kamera schwenkt auf den Kontrollpunkt. Fünf Soldaten starren mit unbewegten Gesichtern in das gleißende Wüstenlicht. Der Frontverlauf zeige keine Veränderung, heißt es in einem Kommentar. Von all dem verstehe ich nichts. Ich will nur, dass du zurückkommst.
Wenn ich lange unterwegs war und die Tür meiner Wohnung aufschließe, dann sinken all die Wörter und Sätze, die ich dir schreiben wollte, für einen Augenblick ins Unwirkliche zurück, so als wärst du hier. Als könnte ich dich wirklich sehen und mit dir sprechen. Dann möchte ich ein Brief sein in deinen Händen, eine Zeile unter dem behutsamen Tasten deiner Fingerkuppen.
Nach einiger Zeit beginne ich, dir zu schreiben. Ich erzähle dir, wo ich überall gewesen bin, was ich gesehen habe, warum ich immerzu an dich denken muss. Es ist, als schöpfe ich ein Geheimnis aus mir, oder aus dir. Nichts von all dem, was ich tagsüber an Gerüchen wahrnehme oder denke oder träume, geht verloren, wenn ich dir nur schreiben kann. Also schreibe ich dir jeden Tag.
Als mein Großvater im Ersten Weltkrieg in Frankreich war, hat ihm meine Großmutter jeden Tag geschrieben. Auch noch, als mein Großvater vermisst war. Auch noch, als längst feststand, dass er an der Somme gefallen war. Eines Tages zeigte mir meine Mutter diese Briefe. Die vielen Fragen würden für immer ohne Antwort bleiben. Und es kommen neue hinzu. Warum stellen wir seit Jahrtausenden immer die gleichen Fragen? Warum hört das nicht auf, dass Menschen für Ruhm und Ehre und Macht und Vaterland einander abschlachten? Warum gibt es nicht einen einzigen Tag ohne Krieg auf dieser Erde? Das Leben ist ohne Erbarmen. Und manchmal zerreißt es einem das Herz.

Es tut mir so leid.
Deine Stimme ist zu einem dünnen Faden geronnen. Es fällt dir schwer, mich anzusehen. Unbeholfen legst du deine kräftigen Arme um meinen Körper, ein Gefühl, als ob man rückwärts den Himmel hinauffällt.
Wir stehen vor dem Tor des Luftwaffenstützpunktes. Weiter dürfen nur die, die ein paar Stunden später die bauchige Trans All- Maschine besteigen und nach Kabul geflogen werden.
Ich sage nichts.
Ich schreibe dir, sagst du. Ich nicke tapfer. Mit einer seltsamen Geste, die überhaupt nicht zu dir passt, legst du deine Hand auf meinen Bauch. Was kannst du wissen von dem, was ich selbst noch nicht wusste?
Ich lehne meinen Kopf in den wolkenlosen Abendhimmel. Ich spüre deine Küsse, den Geruch deiner Haut, deine Angst.
Stunden später sehe ich, wie die Spur eines Flugzeugs der amerikanischen Luftwaffe den Himmel mit Silber ausgießt. Dann erst beginne ich zu weinen.

Ich schreibe dir jeden Tag. Was ich fühle, wenn ich dir schreibe, ist die Unwirklichkeit meiner Hoffnungen. Was mich beherrscht, ist die Wirklichkeit des Unvollendeten. Sie atmet aus jedem Satz, den ich dir schreibe, jeder Pore meines Körpers.
Ich taste über die Buchstaben meiner Schrift. Ich kann sie spüren wie die Furchen auf deiner Haut. Das Papier in meinen Händen ist wirklicher als alles, was ich sonst von dir besitzen könnte. Es riecht nach dir.

Ich fahre jeden Tag mit der Bahn in eine andere Stadt, zwei Briefe in meiner Tasche, einen für dich und einen für mich. Ich werfe die Briefe, die ich in schlaflosen Nächten schrieb, dort in einen Briefkasten am Flughafen. Dann ist es ein bisschen so, als wären sie von weither gekommen, von dort, wohin du verschwunden bist.
Ich höre Nachrichten. Ich sehe die kurzen, glatt gebügelten Treatments über den Afghanistan-Konflikt. Das Wort Krieg vermeiden sie. Dabei ist das Abendprogramm voll davon.
Ich stehe auf der Besucherplattform des Flughafens und sehe auf das verlassene Rollfeld. Ein weißer Streifen zerschneidet das durchsichtige Feld des Himmels.

Ich schreibe dir. Meine Gedanken sind wie Schemen hinter blindem Glas. Sie verblassen, wenn ich mich ihnen nähere. Ich schreibe von Dingen, die ich in den Sätzen meiner Briefe aufbewahre. Was ich aufbewahre, kann ich nicht vergessen.

Meine Schrift begehe ich wie eine unsichtbare Wellenlinie, unter der alles zugleich verschwindet und wiederauftaucht. Es ist, als könnte ich deinen Geruch atmen, deine Gegenwart spüren, deine Gedanken lesen, wenn ich dir nur schreibe, wenn ich die Entfernung wie ein schwebendes Stück Finsternis in mir spüre und mit jeder Zeile weniger werden lasse. Du bist bei mir, wenn ich dir schreibe und ich bin an einem Ort, an dem ich nur sein kann, wenn ich dir schreibe. Nichts erscheint mir wirklicher, als auf diese Art dort zu sein, wo ich nicht sein kann. Es ist die einzig mögliche Art, ohne dich zu sein und doch zu existieren.
 
Auf der Straße renne ich fast in ein Auto. Ich eile nach Hause, als warte dort etwas auf mich, als würdest du dort sitzen und auf mich warten. Die Wohnung ist leer.

Am nächsten Tag klingelt es noch vor sieben Uhr an der Tür. Ein Offizier und ein schwarz gekleideter Seelsorger stehen vor mir. In nüchternen Sätzen teilt man mir bedauernd mit, dass du am zweiten April gegen Mittag bei einer Minenexplosion im Süden des Landes ums Leben gekommen bist. Der Kommandeur spricht mir sein tief empfundenes Mitgefühl aus und er sagt, dass du für dein Vaterland gestorben seiest.

Die nächsten Stunden wollen nicht vergehen. Der Tag hat gerade erst begonnen, aber nichts von dem, was ich tue, hat wirklich einen Anfang mehr. Gehe ich verloren, ist niemand da, der es mir sagen wird.
Abends beginne ich dir zu schreiben. Ich schreibe dir die ganze Nacht, Brief um Brief. In die Nachtschatten flüstert mein Stift deinen Namen. Ich gebe den Tagen andere Namen und meiner Erinnerung andere Tage.
Als es Morgen wird, bist du niemals fort gegangen. Mir wird klar, es ist so schön, wie es war, wie am allerersten Tag, wenn man sich noch nicht fragt: Wie lange weiter so.
Wenn ich dir schreibe, bin ich da, wo wir nicht mehr sein können. Lass mich bei dir sein, wenn sich die Zeit mit jedem Brief neu erfindet. Lass das unser Geheimnis sein.
Die Tage vergehen. Und als wäre nichts geschehen, geht der Krieg weiter. Er wird aufhören. Und in einem anderen Land zu einer anderen Zeit neu beginnen. Deine Briefe trösten mich. Sie sind wirklicher als alles, was ich je zuvor von dir wusste und besaß. Manchmal fahre ich zum Flughafen und warte vor dem Tor.
In der Ferne schwitzen die Grashalden den Geruch des Winters aus.
Ich warte. Wenn der Krieg jemals zu Ende ist, so werde ich es nicht bemerken. Es ist ohne Bedeutung, weil ich an jedem zweiten Tag einen Brief von dir in meinem Briefkasten finde und weil ich mich, solange du bei mir bist, niemals frage, wann du zurückkehren wirst. 

Text: Daniel Mylow wurde 1964 in Stuttgart geboren. Er lebte in Düsseldorf, Hannover, Berlin und Krefeld und absolvierte sein Studium in Bonn und Mainz. Er arbeitete als Oberstufenlehrer in und ist seit 2018 an der Freien Waldorfschule in Überlingen/Bodensee Poesiepädagoge und Dozent für Literatur. Sein Poetischer Thriller "Rotes Moor" erschien 2017 und 2020 sein Roman "Greisenkind". Daniel Maylow veröffentlichte in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften und erhielt diverse Auszeichnungen (zuletzt Kempener Literaturpreis 2017; Preis der Sparkassenstiftung Groß Gerau 2017 und das 202 Merck-Stipendiat der Stadt Darmstadt)

Foto: Nader Ismail 

 

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