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Erneuerung braucht Identität

von Philipp Kloth

Ohne weiteren Kontext würden viele Menschen in Deutschland die Begriffe Erneuerung oder Veränderung sicherlich unter anderem auch mit Ungewissheit, Abkehr vom Alten oder gar Identitätsverlust in Verbindung bringen. Diese Dinge sind nicht zwangsläufig für jeden etwas Schlechtes, aber in der heutigen Zeit doch eher negativ konnotiert.

Da mag es vielleicht verwundern, dass gerade die Philosophie dazu seit jeher fast einhellig die Meinung vertritt: Ohne klare Identität kann es keine Erneuerung geben. Dabei ist dies gar nicht als lebensbejahendes Appell an unsere Selbstliebe gedacht, sondern eine ganz pragmatische Überlegung. Ohne das Vorhandensein einer klar abgegrenzten Identität verlieren Konzepte wie Erneuerung oder Veränderung maßgeblich an Substanz.

„Ohne eine klar abgegrenzte Identität verliert Erneuerung oder Veränderung maßgeblich an Substanz."

Es klingt vielleicht abgedroschen aber etwas muss zunächst sein, um sich ändern zu können. Noch mehr erfordert es jedoch einen Beobachter oder zumindest eine strenge Selbstreflexion, um so etwas wie Erneuerung überhaupt wahrnehmen zu können. Den Unterschied zwischen vorher und nachher können wir nur anhand einer Identität festmachen, ansonsten fehlt einfach jeglicher Bezugsrahmen zum Grad der Veränderung.

Was Identität konkret ist und wie wir sie in jeder Situation definieren sollten, das konnte seit der Antike leider kein Philosoph schlüssig beantworten. Ein klassisches Beispiel hierzu ist das Schiff des Theseus, dessen Holzplanken im Laufe der Zeit immer Schrittweise durch neue ersetzt werden, bis irgendwann nichts mehr vom ursprünglichen Baumaterial vorhanden ist. Noch heute ist man sich uneins darüber, ob hier nun eine durchgängige Identität vorliegt oder doch eher die eine Existenz eine andere abgelöst hat.

Solche internen Diskurse können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Identität das entscheidende Kriterium ist, um eine Veränderung festzustellen. Ebenso muss es einen kleinen und dennoch bedeutenden Unterschied zwischen Erneuerung und Ablösung geben, wenn letzteres offensichtlich mit einem beobachtbaren Identitätsbruch einhergeht. Scheinbar gibt es während einer Erneuerung immer etwas, das Identität stiftet, obgleich die Bedingungen dafür selten ganz offensichtlich sind. So verhält es sich auch mit unserer persönlichen Identität - ob nun auf biologischer oder psychischer Ebene.

„Scheinbar gibt es während einer Erneuerung immer etwas, das Identität stiftet."

Große Teile unseres Körpers erneuern sich auf Zellebene alle paar Jahre rundherum und trotzdem fürchten wir nicht, in regelmäßigen Zyklen nicht mehr wir selbst zu sein. Unser Geist läuft sogar noch viel eher Gefahr, an Identität zu verlieren, wenn wir schlafen, betrunken sind oder unter Amnesie leiden, weil die Kontinuität der bewussten Selbsterfahrung verloren geht. In der Praxis zweifeln jedoch nur wenige nach dem Aufwachen an Ihrer Identität. Leibniz erklärt dies zum Beispiel mit einem sensorischen „Grundrauschen“, das auch ohne bewusste Hinwendung zum eigenen Ich eine Wahrnehmung des selbigen erzeugt.

Selbst bei starkem Gedächtnisverlustes sind sich viele Philosophen zusammen mit Neurologen darüber einig, dass trotz fehlender Erinnerungen an das eigene Ich (außerhalb der Gegenwart), eine persönliche Identität bei den betroffenen Patienten erkennbar bleibt. Niemand wird gänzlich seiner subjektiven Identität beraubt, nur weil die Erinnerungen an die Vergangenheit vielleicht nicht weiter als wenige Minuten zurückreichen.

„Erneuerung und Identitätsverlust schließen sich aus philosophischer Sicht prinzipiell aus."

Zusammenfassend lässt sich also sagen: Selbst unter extremen Bedingungen verlieren weder Subjekte, noch Objekte einen grundlegenden Teil ihrer Identität. Nun mag man die Quintessenz diese Analyse auf sich selbst, auf unsere Gesellschaft oder auf das ständig an Qualität verlierende Fernsehprogramm übertragen - die Aussage bleibt stets identisch: Ohne zumindest eine grobe Vorstellung von Identität verliert das Konzept der Erneuerung drastisch an Bedeutung und ist für die menschliche Wahrnehmung eigentlich überhaupt nicht mehr greifbar. Erneuerung und Identitätsverlust sind damit Dinge, die sich aus philosophischer Sicht prinzipiell ausschließen.


Text: Philipp Kloth | Foto: Jesus Gomez |

Im Rahmen des Themenfokus #erneuerung auf upgration.de zeigen wir 2019 verschiedene Perspektiven auf das Thema. Zeige uns Deine Gedanken dazu und komm vorbei oder schreib uns an: redaktion@upgration.de