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Interviewreihe: Haymat erneuern mit Sibel Schick

Anfang April organisierte die Rosa Luxemburg Stiftung die Migrationskonferenz „Haymat". Migrantische Selbstorganisationen, Aktivist*innen und Vertreter*innen der Politik kamen mit Wissenschaflter*innen und anderen Akteur*innen zusammen, um über einen Perspektivwechsel des Migrationsdiskurses zu debattieren, aber auch um über die Anforderungen an die linke Politik für die Gesellschaft der Vielen zu sprechen. Für die Redaktion von Upgration war die Konferenz vor allem die Möglichkeit mit Expert*innen ins Gespräch zu kommen, die gesellschaftliche Prozesse weiterdenken. So zum Beispiel mit der Journalistin und Autorin Sibel Schick, mit der wir über intersektionellen Feminismus und die Rolle von Provokation in der öffentlichen Debatte gesprochen haben.

Wofür genau setzt du dich als Aktivistin und Journalistin ein?

Ich setze mich in letzter Zeit vor allem für Sichtbarkeit ein. Angefangen habe ich auf einer pro-aktivistischen und anti-sexistischen Plattform, die ich gemeinsam mit anderen Aktivistinnen in der Türkei gegründet habe. Dort haben wir über aktuelle Geschehnisse gesprochen und Demonstrationen vorbereitet. 2017 musste ich mich aus Zeitgründen von der Plattform trennen. Jetzt setze ich mich über meine persönlichen Social Media Kanäle für Empowerment und Sichtbarkeit ein. Ich produziere Videos, die sich vor allem an Menschen richten, die sexistische und rassistische Diskriminierung erfahren. Ihnen möchte ich durch meine Inhalte helfen, mit diesen Erfahrungen umzugehen und dem rauen Ton in den sozialen Medien ein Stück weit entgegenwirken, weil ich beobachte, dass dieser immer aggressiver wird. Diese Entwicklung hängt in meinen Augen auch damit zusammen, dass immer mehr marginalisierte Menschen über die Social Media Plattformen sichtbarer und hörbarer werden. Eine Reaktion der Mehrheitsgesellschaft auf diese steigende Sichtbarkeit ist ein oft rauer und agressiver Ton; ein Versuch diese Stimmen zu unterdrücken. Ich versuche im Gegenzug durch meine Arbeit Menschen zu erreichen und dieser Unterdrückung entgegenzuwirken. Meine Texte sind für jene, die mehrfach marginalisiert sind. Ich möchte ihnen mit ein bisschen Humor, Frechheit und Provokation das Gefühl geben, dass es okay ist wie sie sind, dass wir da draußen ganz viele sind, auch wenn das manchmal nicht so aussieht oder es sich zumindest nicht so anfühlt. Wir sind füreinander da. 

Macht euch sichtbar, macht euch hörbar! Egal auf welche Art und Weise! Seid unangenehm! 

Das ist momentan die Art der Arbeit, die ich mache. 

In einem deiner Tweets aus dem letzen Jahr schreibst du “Es ist ein strukturelles Problem, dass Männer Arschlöcher sind”. Welche Rolle spielt Provokation für dich in der derzeitigen Sexismus-Debatte?

Nicht nur in dieser, in jeder öffentlichen Debatte spielt Provokation eine große Rolle. Ich möchte durch meine Inhalte vor allem die vorhandene Sprachbarriere aufbrechen. Wir sollten uns so schlicht, einfach und verständlich ausdrücken wie nur möglich, damit tatsächlich auch alle erreicht werden. Aus diesem Grund habe ich überhaupt erst diesen Tweet damals geschrieben (“Es ist ein strukturelles Problem, dass Männer Arschlöcher sind”) Die krassen Reaktionen, die dieser eine Satz ausgelöst hat, haben mich dazu gebracht mich hinzusetzen und ein Gedicht zu dem Thema zu schreiben, das dann im Missy Magazin veröffentlicht wurde. 

Ohne Provokation läuft gar nichts! 

Von daher verstehe ich nicht, warum die Leute sich darüber beschweren. Menschen müssen provokativ sein, sonst haben sie kaum Chance gehört, geschweige denn ernst genommen zu werden. Marginalisierte Menschen werden aber eigentlich so oder so nicht ernst genommen. Sobald man die Mehrheitsgesellschaft mit gewissen Vorurteilen konfrontiert, scheint das zurzeit die natürliche Reaktion zu sein. Oft wird der Vorwurf erhoben ungebildet zu sein, sich nicht mit themenrelevanten Theorien auszukennen und sowieso keine Ahnung vom Leben zu haben. Deswegen bin ich auf jeden Fall dafür, dass Menschen sich auch durch Provokation hörbar und sichtbar machen. Das funktioniert!

In einem Profil über dich ist bei Watson.de zu lesen "Es reicht nicht eine Stimme zu haben. Es reicht nicht die Geschichte erzählen zu können. Geschichten werden erst eine allgemeine Wahrheit wenn sie geglaubt werden". Sind wir nun an einem Punkt, an dem Stimmen zwar auf Plattformen Gehör finden, aber in vielen Fällen einfach nicht geglaubt werden?

Richtig! Weil es zur Zeit nicht genug Stimmen gibt! Ich habe mich sehr verstanden gefühlt, als ich das über mich gelesen habe. Ich weiß, dass Glaubwürdigkeit damit zusammenhängt wie oft man auftritt und wie oft man gehört wird. Wenn wir also die Sichtbarkeit und Hörbarkeit erhöhen, dann kommt die Glaubwürdigkeit mit. Wenn eine Perspektive gerade frisch ist und erst ankommt, dann ist es ganz natürlich, dass sich Leute erst einmal dagegen wehren. Ist ein Thema aber auf lange Zeit sichtbar, wird es irgendwann selbstverständlich, dass die Menschen darüber reden und die negativen Reaktion gehen dementsprechend zurück.

Du sagst, solange ein Problem wie Sexismus strukturell ist, kann es nicht individuell gelöst werden. Was genau meinst du damit?

Ich meine damit, dass wir alle in einer Welt leben, die tatsächlich gewisse Gruppen unterdrückt. Wir werden in dieser Welt sozialisiert. Heute wurde in einem Workshop hier gesagt, dass man, wenn man in Deutschland aufwächst, rassistisch sozialisiert wird. In meinen Augen geschieht das auch im Hinblick auf Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Konkret und bezogen auf den Hashtag #menaretrash und meinen Tweet meine ich damit den strukturellen Aufbau unserer Gesellschaft. Solange Männer in einer Welt sozialisiert werden, in der sie sich und ihr Verhalten nicht moderieren oder hinterfragen müssen und diese Verhaltensweisen von Außen auch noch gerechtfertigt oder untermauert werden, ist es doch klar, dass wir nicht einzelne Personen bekämpfen müssen, sondern eben das Konstrukt, das sie hervorbringt und bestärkt. Männer bekommen per se bei ihrer Geburt eine Immunität für ihr Verhalten verpasst. Es herrschen immer noch extrem ungerechte Bedingungen und Doppelstandards. Das ist genau das, was ich mit meiner Aussage meine. Ja es gibt auch nette Männer, natürlich, es gibt auch Männer, die selber diskriminiert werden, das ist schon klar! Aber die Männlichkeit ist immer ganz entscheidend und deshalb bin ich der Meinung, dass wir erst einmal diese patriarchalischen Strukturen ganz klar ablegen müssen!

Dein Workshop auf der Tagung „Haymat“ trägt den Titel "Deutsche Feminismen inklusiver gestalten“, aber wie?

*Lacht* Das ist genau die Sache. Wie?! Ganz wichtig war den Teilnehmerinnen heute die Bedeutung der Sprache. Wie reden wir untereinander? Wie diskutieren wir über Ungerechtigkeiten? Muss Frau erst einmal 153 Theorien gelesen haben, um einer Diskussion folgen zu können oder nicht? Offenbar sind wir zurzeit nicht in der Lage, viele der Menschen zu erreichen, an die wir eigentlich herankommen müssten. Das liegt unter anderem an der Art der Sprache. Im deutschen Feminismus findet eine Korrektur von oben herab statt. Eine wichtige Forderung heute war, dass Fehler, besonders sprachliche, in linken oder feministischen Räumen erlaubt sein müssen. 

Es wird konstant von oben nach unten korrigiert und kritisiert! Ein weiterer Punkt war, dass marginalisierte Personen oft abwiegen müssen wie sie sich zu Themen äußern, um sich nicht ständig rechtfertigen zu müssen. Hier wird ebenso eine Korrektur von oben herab erlebt. Die Gruppe in meinem Workshop war zwar divers, dennoch ist klar, dass nicht alle Perspektiven vertreten waren. Das ist auch nicht zu schaffen. Die Forderungen der TeilnehmerInnen heute lassen sich so zusammenfassen: Für inklusivere Feminismen müssten deutsche Feministinnen - mehr zuhören und mehr reflektieren. 

 

 

 

Nächstes Interview: Meral El, Geschäftsführerin der Berliner Geschäftsstelle der neuen deutschen organisationen

Mit Meral El haben wir über ihre Netzwerkarbeit für postmigrantische Initiativen gesprochen und wie es gelingt, deren Vertreter*innen sichtbarer zu machen und ihre Standpunkte zu vertreten.

 

 

 


 Interview: Marlene Obst & Julius Matuschik I Fotos: Julius Matuschik