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Interviewreihe: Haymat erneuern mit Tahir Della

Anfang April organisierte die Rosa Luxemburg Stiftung die Migrationskonferenz „Haymat". Migrantische Selbstorganisationen, Aktivist*innen und Vertreter*innen der Politik kamen mit Wissenschaflter*innen und anderen Akteur*innen zusammen, um über einen Perspektivwechsel des Migrationsdiskurses zu debattieren, aber auch um über die Anforderungen an die linke Politik für die Gesellschaft der Vielen zu sprechen. Für die Redaktion von Upgration war die Konferenz vor allem die Möglichkeit mit Expert*innen ins Gespräch zu kommen, die gesellschaftliche Prozesse weiterdenken. So zum Beispiel mit Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, mit dem wir über koloniale Kontunuitäten gesprochen haben.

Was genau ist die ISD (Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland) und wie hat sich eure Arbeit über die Jahre verändert?

Die ISD ist Mitte der 80er-Jahre nahezu zeitgleich mit der Bewegung ADEFRA e.V, einer Schwarzen Frauenorganisation gegründet worden. Der konkrete Anlass war die umfangreiche Recherche zu dem Buch ”Farbe bekennen" von Katharina Oguntoye, May Ayim und Dagmar Schultz. Ein Buch, in dem Schwarze Frauen generationsübergreifend ihre Geschichte und Gegenwart in der deutschen Gesellschaft dokumentierten.

Die Idee war zuerst gar nicht eine klassische politische Organisation zu gründen, sondern eher eine Plattform bzw. ein Netzwerk für Schwarze Menschen in Deutschland zu entwerfen. Das war damals ein totales Novum. Es gab natürlich schon Schwarze oder afrikanische Organisationen, die eher national orientiert waren aber eben nichts vergleichbares für Schwarze Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hatten. Menschen, die also entweder hier geboren wurden, aufgewachsen sind oder eben einen beträchtlichen Teil des Lebens hier verbracht haben. Die Gründung der ISD hat so eine Lücke geschlossen. Die Mehrheit der Aktiven sind damals wie heute Frauen. Viele dieser Frauen kamen damals schon aus politischen Zusammenhängen zur ISD zum Beispiel aus der Frauenbewegung, der antirassistischen Arbeit oder der Anti-Apartheit-Bewegung.

Ich bin um 1986 in München dazugestoßen. Damals fand vor allem ein Austausch über die politischen Ziele und die eigene Geschichte statt. Es ging uns um das Sichtbarmachen von Schwarzen Präsenzen und das Sichtbarmachen von Schwarzen Erfahrungen. Das war in den ersten Jahren zentral. Aber wir haben natürlich auch schon konkrete Kampagnenarbeit gemacht und expliziert Rassismus in den Medien und in der Werbung angesprochen. Außerdem haben wir uns sehr mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands beschäftigt. Das wurde ebenfalls in "Farbe bekennen" thematisiert und war ein völliges Novum darstellte. Ich denke wir haben mit unserer Arbeit maßgeblich mitgewirkt, das Verständnis von Rassismus überhaupt einmal zu besprechen. Dieses Verständnis ist und war ja sehr verengt in Deutschland und hat sich maßgeblich auf das rechte Spektrum konzentriert. Also Nazis. Heute würde man sagen die AfD und Co. sind die ganz klar bekennenden Rassisten. Rassistisches Tun in Situationen wie der Schule, dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, bei Polizei und Justiz – das war bis dato überhaupt nicht besprechbar, weil völlig negiert wurde das es überhaupt stattfinden kann.
May Ayim hat damals in "Farbe bekennen" auch ihre Abschlussarbeit zum Thema Rassismus in Deutschland abgedruckt. Ihr damaliger Professor sagte ihr, sie bräuchte keine Abschlussarbeit zum Thema Rassismus in Deutschland machen, weil es hier keinen Rassismus nach 1945 gebe. Das war das Verständnis Mitte der 80er Jahre. Und das macht ein bisschen deutlich, dass wir da absolut Pionierarbeit leisten mussten. Es gingt uns darum Rassismuserfahrungen in Deutschland überhaupt besprechbar zu machen und maßgeblich aus der Perspektive von denjenigen, die negativ betroffen sind zu berichten.

Du gibst hier den Workshop "Koloniale Kontinuitäten und Rassismus heute“. Kolonien sind ja etwas, das gerne als Geschichte kategorisiert wird. Trotzdem ist koloniales Denken nach wie vor in vielen Köpfen verankert. Wie äußert sich das und vor allem wie kommen wir davon weg? Kann hier ein Perspektivwechsel helfen?

Die Koloniale Epoche ist nicht abgeschlossen. Es wurde weder mit diesen gewachsenen und konstruierten Machtverhältnissen gebrochen, noch wurde wirklich über eine Verantwortungsübernahme der Länder, die Kolonisierung ausgeübt haben gesprochen oder zu irgendeinem Zeitpunkt eine Art von Wiedergutmachung angestrebt.
Die aktuellen Themen, mit denen sich der globale Norden jetzt beschäftigt, wie Migration, Flucht oder globale Gerechtigkeit sind alle unmittelbare Folgen von der 500–600 jährigen Kolonialgeschichte. Aber das wird nicht in Verbindung diskutiert. Es wird darüber gesprochen, dass Migration und Flucht ein Problem, eine Belastung für den globalen Norden darstellen und wie man das verhindern kann. Aber es wird nicht darüber gesprochen was dahinter steckt oder wer eigentlich in den letzten fünfhundert Jahren praktisch den gesamten Planeten außerhalb von Europa unterjocht hat. Die Folgen sind bis zum heutigen Tag spürbar und sichtbar. Hier ist es wichtig Kontinuitäten aufzuzeigen, weil eben auch die jüngere Geschichte dies untermauert. Der Faschismus ist ohne die Kolonialgeschichte nicht denkbar. Die ersten Konzentrationslager gab es in Namibia. Rassistische Forschung am Menschen wurden schon in der Kolonialzeit betrieben.
Dieses geflügelte Wort vom „Perspektivwechsel“, da bin ich ein bisschen ambivalent zu. Eigentlich geht es darum, die Geschichte mal komplett zu erzählen. Welche Geschichte wird erzählt, welche wird nicht erzählt und warum wird sie nicht erzählt? Das hat natürlich damit zu tun, dass wenn ich mir die Kolonialgeschichte genau anschaue, wer tatsächlich von ihr profitiert hat und dies auch heute noch tut, dann würde klar werden, dass daraus Konsequenzen gezogen werden sollten.


Wenn wir trotzdem einmal vom Perspektivwechsel sprechen, weil Diskriminierung ja oft nicht ernst genug genommen wird, weil einem als Mensch der wenig oder gar nicht von Diskriminierung betroffen ist, diese Perspektive fehlt.

Klar gibt es negative Betroffenheit von Menschen mit Rassismuserfahrung, aber betroffen sind wir alle! Jede Person ist aufgerufen zu überlegen: will ich in dieser Art von Gesellschaft leben? Bin ich damit einverstanden, weil es mich nicht betrifft und deswegen muss ich mich nicht kümmern. Oder sage ich, dass ich in einer Gesellschaft ohne Diskriminierung und zwar für alle Beteiligten leben möchte. Hier geht es um alle Spektren, nicht nur um Rasissmus. Ich kann nicht sagen, ich trete für eine gerechte Welt oder Gesellschaft ein und fokussiere mich dann nur auf meine eigenen Themen und lasse andere außer Acht. Es muss eine gemeinsame Haltung zu einer gesellschaftlichen Vision entwickelt werden.

Wo können wir anfangen in unserem Umfeld zu handeln? Wie de­ko­lo­ni­sie­re ich meinen eigenen Freundeskreis?

Ich glaube das ist gar nicht so schwierig. Im Grunde muss man einfach die Themen konkret ansprechen, wenn sie aufkommen. Ich frage mich immer warum es oft heißt, dass nicht Betroffene bestimmte Dinge nicht erkennen könnten. Das stimmt so gar nicht. Wenn ich mir anschaue wie offenkundig die Spuren für mich sind. Wenn man eine Bereitschaft hat hinzuschauen oder Sachen in Frage zu stellen, dann muss es auch möglich sein, dass sogenannte „nicht Betroffene“ Dinge erkennen können. Das ist eine Frage der persönlichen Haltung.

 

 

 

Nächstes Interview: Sibel Schick, Autorin und Journalistin

Mit Sibel Schick haben wir über intersektionellen Feminismus gesprochen und warum ihrer Meinung nach Provokation in der öffentlichen Debatte wichtig ist, um Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Prozesse zu erlangen.

 

 

 


 Interview: Marlene Obst & Julius Matuschik I Fotos: Julius Matuschik