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Was zwischen den Dingen liegt

von Paula Schwerdtfeger

Orientierungslos, gefangen, lost in translation: Aus der Erfahrung, selbst entwurzelt zu sein, schafft der Berliner Künstler Hiwa K seine Werke. Sie sind aktuell zu sehen im Kunstverein Hannover. Ein Besuch

Wer das helle und breite Treppenhaus des hannoverschen Kunstvereins nach oben geht, steht – oben angelangt – ohne es zu wissen in der Mitte einer neuen Arbeit von Hiwa K.

Die Ausstellungsräume rechts und links des Treppenhauses gleichen sich auf den ersten Blick bis aufs Haar: In beiden Räumen sind die auffällig großen Fenster zur Straße mit blauer Folie bespannt, so dass ein sakral anmutendes, dunkles Blau die Räume durchfließt. Auf dem Boden und den Wänden, dort, wo bei aktuellem Sonnenstand das Sonnenlicht hinfällt, ist in wunderschöner, weißer, ornamentaler Kalligraphie kurdisches Arabisch geschrieben.

Doch die Räume sind keine Doppelung. Sie beinhalten bei genauerem Hinsehen zwei nicht voneinander zu trennende Perspektiven auf dasselbe Ereignis: Hiwa K und sein Freund Shamera berichten von dem Tod ihres gemeinsamen Freundes Ako. Ihre unterschiedlichen Geschichten schrieb der hannoversche Kalligraph Tahar Sali in jeweils einem der Räume auf den Boden und die Wände. In deutscher Übersetzung sind sie als Wandtexte nachzulesen. Das Werk ist im Prozess. Am Ende der Ausstellung werden die Geschichten bis zu fünf mal auf den Böden stehen.

Installationsansicht »He Who Stares at the Sky Will Go Blind!« (2018) von Hiwa K, Kaligraphie von Taha Sali; KOW, Berlin und Prometeogallery di Ida Pisang, Mailand/Lucca, Foto: Raimund Zakowski

Ohne es also zu wissen, steht der/die Besucher*in am oberen Treppenabsatz zwischen den beiden Perspektiven auf dasselbe Ereignis. Auf der einen Seite erzählt Shamera, wie er noch kurz vor Akos Tod mit ihm sprach, und wie er kurz nach dem Tod die Waschung des Leichnams vollzog – eine rituelle Reinigung, bei der garantiert werden soll, dass das Leichentuch unbefleckt bleibt. Akos Körper aber hörte nicht auf zu bluten. Auf der anderen Seite berichtet Hiwa K selbst, wie er Ako ebenfalls wenige Stunden vor dessen Tod wiedertraf, nach langer Zeit. Jahre zuvor hatte Ako dem kleinen Jungen Hiwa erzählt, wenn er in den Himmel blicke, werde er blind. Der kleine Hiwa schaute danach eine ganze Zeitlang nicht mehr nach oben – deswegen heißt dieses neue, beide Räume umfassende, Werk auch „Jener, der in den Himmel blickt, wird erblinden!“ (He Who Stares at the Sky Will Go Blind!“).

Ako starb 1991 als Soldat der Perschmerga, die Kämpfer der Autonomen Region Kurdistan. „Peschmerga“, das heißt auf Deutsch übersetzt so viel wie „Die dem Tod ins Auge Sehenden“. Die persönlichen Erzählungen entpolitisieren Akos Tod, um ihn gleichzeitig ins Zentrum einer größeren Erzählung zu stellen. Die sanfte Poetik von Hiwa Ks Arbeiten tritt hier hervor. Sie ist zu finden im Dazwischen, dort, wo der Besucher am Anfang steht, als Spiegelachse im Werk, ohne es zu wissen. Dort, wo die beiden Perspektiven auf dasselbe Ereignis zusammengebunden sind. Dort, wo der Blick nach oben in den Himmel und der Blick nach vorne auf den Tod sich treffen und dort, wo das Sonnenlicht durch die blauen Fenster fällt und auf dem Boden seinen Halt findet.

Man wolle die künstlerische Methode von Hiwa K zeigen, sagt Kathleen Rahn, die Direktorin des Hannoverschen Kunstvereins. Hiwa K ist spätestens seit der letzten documenta in Kassel und Athen bekannt. Auf der documenta war er unter anderem vertreten mit seinem viel fotografierten Werk „When We Were Exhaling Images“, ein aus Röhren zusammengesetzter Kubus auf dem Friedrichsplatz in Kassel, dessen Hohlräume provisorisch zu Wohnstätten umgestaltet worden waren. Seitdem stand vor allem die Biographie von Hiwa K im Zentrum des Interesses. Seit knapp zwanzig Jahren lebt Hiwa K in Deutschland, aktuell in Berlin. Der 1975 im kurdischen Irak geborene Künstler floh in den 1990er Jahren über Griechenland nach Westeuropa – jene Strecke also, die in den vergangenen vier Jahren von vielen Geflüchteten aus den umkämpften Regionen im Nahen Osten begangen wurde. Sicher machte diese biographische und geographische Parallele den Künstler in gehobenen Maß aktuell. Im Kunstverein Hannover soll nun also die künstlerische Methode von Hiwa K herausgearbeitet werden. Dabei, so möchte ich zeigen, erwächst bei Hiwa K das eine aus dem anderen, sind künstlerische Methode und biographische Erfahrung strukturell miteinander verbunden. Eine Erklärung:

»After a while he managed to cross the border of X without legal papers and enter another country—let’s call it XX—to apply for refugee status again. From that moment he was a new person.« (aus Hiwa K, "View from Above")

Für mich war eine weitere, weniger beachtete Arbeit von Hiwa K auf der documenta prägend: In der Videoarbeit „View from Above“ im Kassler Stadtmuseum wird die Geschichte erzählt von einem Geflüchteten, der sich eine neue Identität zulegen muss, um in Europa Schutz zu erhalten. Der Schutz ist in jedem Moment wieder gefährdet, denn die Grundlage für den Schutz, die Herkunft aus einem unsicheren Gebiet, ist unwahr. Unterlegt ist die teils rätselhaft poetische Erzählung von Videofahrten über das Stadtmodell des zerstörten Kassels nach dem 2. Weltkrieg. Die „Anekdote“ hinter der Arbeit „View from Above“ ist auf der Seite des Künstlers nachzulesen.

Die in Hannover nicht zu sehende Arbeit „View from Above“ hat für mich auf den Punkt getroffen, was mir in Unterhaltungen mit Geflüchteten in den letzten Jahren begegnete (und was im Cameo Magazin #3 eine Kapitelüberschrift ist): Das Gefühl, steckenzubleiben – in der deutschen Bürokratie, zwischen den Begriffen „Sicherem Herkunftsland“ und „Schutz“, zwischen den Kulturen und in den Vorgängen der Übersetzung, in denen zu vieles verloren geht. Der Protagonist der Erzählung von „View from Above“ ist steckengeblieben. Und diese Erfahrung überführt Hiwa K in eine künstlerische Sprache, die mir das Unsagbare dieses Zustandes vermitteln kann. Gleichzeitig erfahre ich über die überzeitliche Verbindung von 2. Weltkrieg und heute, dass es sich um eine universelle Erfahrung handeln muss.

Das, was zwischen den Dingen liegt, wird künstlerisch genutzt. Diese Methode lässt sich an weiteren Werken im hannoverschen Kunstverein verfolgen: In der Arbeit „For a Few Socks of Marbles“ von 2012 werden unter anderem zwei Teppiche gezeigt, auf denen sich zwei verschiedene Anleitungen eines Murmelspiels befinden, das Hiwa K als Kind gespielt hat. Auf dem einen Teppich ist das Spiel dargestellt, das Hiwa K selbst aus seiner kurdischen Gemeinde kannte. Es wird waagerecht gespielt. Auf dem anderen Teppich hingegen ist die arabische Version des gleichen Spiels gezeigt – nur spielt man es ein paar Orte weiter von Hiwa Ks Geburtsort senkrecht, also in die Höhe.

Installationsansicht "What the Barbarians Did Not Do, Did the Barberini" (2012/2018) von Hiwa K im Kunstverein Hannover; KOW, Berlin und Prometeogallery di Ida Pisani, Mailand/Lucca; Foto: Sebastian Cunitz

Ein weiteres Beispiel: im vierten und längsten Raum des Kunstvereins sind fünf Quader aus Sand zu sehen. Eine Brücke führt die Besucher auf die andere Seite des Raumes, sodass die Sandquader von oben zu sehen sind. Auf der gegenüberliegenden Längsseite zur Brücke laufen Videoprojektionen, die in einer Bronzegießerei im Irak aufgenommen wurden.

Die Symbolik der einzelnen Elemente der Installation muss zunächst entschlüsselt werden: Die Formen, in denen der Sand aufgehäuft ist, sind an die Kassetten der Kuppel des römischen Pantheons angelehnt. Der Titel der Arbeit „What the Barbarians Did Not Do, Did the Barberini“ ist ein in Italien weiterhin verbreiteter Spruch, der sich auf Maffeo Barberini, Papst Urban VIII., bezieht: Dieser entfernte die Verzierungen aus Bronze an dem antiken Tempel in Rom, um das Metall einzuschmelzen und Kanonen daraus zu gießen. Mit den Sandquadern ruft Hiwa K die berühmte Kuppel des antiken Pantheons auf. Die Videoprojektionen hingegen zeigen einen anderen Prozess: Gezeigt wird die Bronzegießerei des Geschäftsmanns Nazhad in Hiwa Ks Geburtstadt Sulaimaniyya. Nazhad hat ein Geschäft daraus gemacht, aus alten Waffen und Metallteilen, die er in den Kriegsregionen der Golfkriege und jüngst des Syrienkrieges findet, neue, zivil nutzbare Objekte zu gießen. Das heiße Metall wird in Sandformen gegossen, kühlt ab und wird dann entnommen. Die Sandformen, die zurückbleiben, ähneln stark den großen Sandquadern, die im Ausstellungsraum auf dem Boden angehäuft sind. Dasselbe Material kann sowohl für Kunst, als auch für Waffen benutzt werden. Um zwischen den Modi zu wechseln, muss es übersetzt werden, transformiert, durch Hitze und Formen. Das Potential, eine Waffe zu sein, ist, zynisch gesagt, in jeder Bronzeskulptur angelehnt – und anders herum. (Nicht nur in Rom und in Sulaimaniyya, sondern auch in Hannover, wo im 2. Weltkrieg fast alle öffentlichen Denkmäler (außer Ernst August vor dem Bahnhof) eingeschmolzen wurden, um die Kriegsrüstung am Laufen zu halten.)

Wieder ist ein universelles Thema aufbereitet, indem das Moment zwischen zwei Dingen nutzbar gemacht wurde. In der komplexen Arbeit „Pre-Image (Blind as the Mother Tongue)“ von 2017 eröffnetet sich erneut die künstlerische Sprache von Hiwa K: Zu Fuß geht er ein zweites Mal jene Strecke von Nordirak nach Europa, die er zwanzig Jahre zuvor bestritten hat. Nur diesmal orientiert er sich allein mit einem Werkzeug,– einem Teleskopstab – das er auf dem Nasenbein balanciert. Der Blick geht nach oben zum Stab, an dem mehrere Spiegel in unterschiedliche Richtungen weisen. Multiperspektivisch geben sie die Umgebung des Gehenden wieder. Der Gehende selbst kann nie das ganze Bild erkennen. Das befindet sich jenseits der Spiegelbilder, inmitten ihrer Außenkanten.

Installationsansicht mit Filmstill aus "Pre-Image (Blind as the Mother Tongue)" (2017) von Hiwa K, koproduziert von Open-Vizor, Abbas Nokhesteh; KOW, Berlin und Prometeogallery di Ida Pisani, Mailand/Lucca, Foto: Sebastian Cunitz

Er sei eigentlich nirgends zu Hause, seine Heimat liege auf seinen Füßen, hat Hiwa K gesagt. Den Ort zwischen den Dingen, an dem er stecken bleiben könnte, trägt Hiwa K mit sich. So verändern sich die Bedingungen um ihn herum immer neu. Ständig scheint er im Wechsel, transformiert, was er an dem einen Ort gelernt hat, in eine Sprache für den anderen Ort, vergleicht, spiegelt, übersetzt. Während der Pressekonferenz im Kunstverein fällt die Bezeichnung „Medium“. Und auch wenn der Künstler als Medium ein Klischee ist, trifft es in diesem Falle vielleicht zu. Doch Hiwa K ist kein Medium zwischen den Besuchern und einer anderen Welt, sondern zwischen einer anderen Welt und einer weiteren anderen Welt. Er bindet die Dinge zu Paaren zusammen, die durch unsichtbare Linien bereits verknüpft waren. Was ihn als Künstler auszeichnet ist, dass er diese Linien lesbar macht. Das Dazwischen wird sichtbar, ein Beitrag, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann in einer Gesellschaft, die in den aktuellen polemischen Debatten ihre Zwischentöne verliert.

Viele weitere Arbeiten sind im Kunstverein zu sehen, darunter das Video „Do You Remember What You Are Burning?“ von 2011, in dem Leser mit einem Sonnenstrahl und einer Lupe die „gelesenen“ Buchstaben in einem Buch verbrennen. Oder ein Video, das die Probe einer Performance zeigt, die nicht stattgefunden hat: Die Aktivierung des Foltergefängnisses von Saddam Hussein in Sulaimaniyya, Amna Suraka, durch einen Flamenco-Tanz zum Rhythmus des eigenen, rasenden Herzschlags („Moon Calender“, 2007).

Oft arbeitet Hiwa K mit anderen Personen der Künste oder der Philosophie zusammen – wie den eingangs erwähnten hannoverschen Kalligraphen Tahar Sali. Hiwa K ist außerdem als Flamenco-Gitarrist ausgebildet.

Für die Nacht der Museen am 9. Juni hat Hiwa K zwei hannoversche Musiker mit kurdischen Wurzeln in den Kunstverein eingeladen: Um 20 Uhr werden Hawkar & Miran auftreten.

Infobox: Die Ausstellung „Hiwa K. Moon Calender“ im Kunstverein Hannover läuft vom 26.05. bis zum 29.07.2018. Sie entstand in Kooperation mit dem S.M.A.K. in Ghent. www.kunstverein-hannover.de


Autorin: Paula Schwerdtfeger | Fotos: Raimund Zakowski (Kunstverein Hannover) und Sebastian Cunitz

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