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Ich?

von Melanie Samouaire

„Ich war eine Frau, bis ich 25 war."

Die beiden Mädchen saßen auf einmal nicht mehr schweigend und nachdenklich, sondern kurzzeitig extrem verwirrt auf der braunen Steinmauer, deren Klippe in 30 Metern Tiefe in das türkise, ruhige Wasser des Mittelmeers führte.

Ich konnte sehen, nein fühlen, wie es in ihren Köpfen anfing, zu arbeiten. Wie sie von einem Augenblick auf den anderen alles, was wir in diesen zweieinhalb Wochen an der Côte d´Azur erlebt und besprochen haben, in Frage stellten, aus einem anderen Blickwinkel betrachteten, alles rekapitulierten. Es war, als wäre alles nur die halbe Wahrheit gewesen. Oder glaubten sie mir am Ende nicht? Hätte ich keine Bilder von damals, wäre ich dann immer ein Junge gewesen? Hätte ich dann nie wieder ein Problem mit allen Leuten, denen ich noch begegnen würde? Kann man die Vergangenheit denn so einfach löschen? Aber dann ist die Frage, ob ich das denn überhaupt gewollt hätte. Will ich, dass der Augenblick, in dem ich das YouTube-Video gesehen und mir die Augen geöffnet wurden, gelöscht wird? Der Moment, in dem mir klar wurde, was ich mein ganzes Leben lang gefühlt hatte: dass ich im falschen Körper war? Mir jemand eine falsche Haut übergezogen hatte und mich damit den Qualen der Selbstleugnung, des Selbsthasses und des tausendfachen Schmerzes ausgesetzt hatte. Denn ich hatte die Maske doch identifiziert, ich hab es doch gemerkt, dass man mit mir ein falsches Spiel spielte. Ich hatte doch das geschafft, was viele ihr ganzes Leben lang nicht erreichen: zu sich selbst zu finden. Und diesen Moment des Sieges über mich selbst, aber auch der Versöhnung, den will ich nicht verlieren. Ein Sieg im Kampf mit mir selbst, ein Zwiespalt, der nach der Erkenntnis natürlich noch lange nicht vorbei ist.

„Wie haben die Leute in deinem Dorf das aufgenommen?“,

fragte sie und schaute weiter aufs Meer hinaus. Sie hatte alles akzeptiert, durchgedacht und war jetzt schon bei einer Frage angelangt, die für ihr weiteres Puzzle essentiell war.

Ja, wie hatten die Leute es aufgenommen? Sollte ich von den Blicken meiner Eltern erzählen? Sie können doch nichts dafür, in dieser italienischen Tradition, in diesem ewig gleichen Weltbild aufgewachsen zu sein und dann grade durch ihren eigenen Sohn so zerrüttet zu werden. In diesem Alter ist jede Veränderung undenklich schwer und dann zu sehen und zu akzeptieren, dass womöglich sie selbst Schuld am Teil des Schmerzes hatten, ist ja beinahe unmöglich. Aber wieso musste Papa immer wieder seinen Finger in diese fast verheilte Wunde bohren, aus der so unendlich viel Blut geflossen ist. Wieso konnte er mir nicht helfen, sie zu nähen, sie zu küssen, zu streicheln und mich liebevoll angucken.

"andrà tutto bene, ragazzo mio."

Wie oft hatte ich einfach nur diese Worte hören wollen, die väterliche Liebe mit Toleranz und Akzeptanz, mit Beruhigung und Zuversicht vereinten. Aber er nennt mich Zoé. Und er wird es weiter tun. Und das Mädchen sagt, das sei egoistisch und das weiß ich selbst. Er denkt nicht darüber nach, stellt sein heiles, unveränderliches Weltbild über meine Emotionen, reißt Tag für Tag wieder eine Narbe auf und immer wieder muss ich fest dran glauben, dass die Wunde irgendwann ganz verheilen wird. Wird sie das aber wirklich? Wird es den Moment geben, an dem es einfach keine Rolle spielt, keiner mehr mit der Wimper zuckt oder Fragen stellt, wenn ich meine Geschichte erzähle? Wird es immer ein Geheimnis sein, dass ich wie einen Stein mit mir herumtrage und wenn ich jemandem vertraue, aufdecken muss, eine Reaktion abwarten muss und die ganze Geschichte von vorne erzählen muss. Das ist so anstrengend. So unendlich anstrengend. Auch wenn ich jedes mal merke, wie gut es war. Wie gut es ist. Dennoch geht der seltene Moment, in dem ich alles vergesse, in den Spiegel gucke und mich liebe, mich erkenne und anlächel, vorbei wenn es mich wieder wie einen Schlag trifft, wenn mein Papa mich sein Mädchen nennt, die Jungs aus dem Dorf doch mal einen Schritt zu weit beim Scherzen gehen und meine Mutter mit einem traurigen Blick an einem Geschäft für Mädchenmode vorbei geht.

"Natürlich hatte ich positive Erfahrungen."

Leute, die ich gar nicht kannte, haben mir, als sie davon erfuhren, geschrieben, wie sehr sie bewundern, was ich gemacht hab. Dass sie zu mir halten und mich unterstützen. Es kommt auch immer auf das Umfeld drauf an. Ein kleines Dorf scheint immer intoleranter zu sein als eine Großstadt. Alles bleibt beim Gleichen, alles soll auch unbedingt beim Gleichen bleiben. Aber warum denkt denn niemand daran, dass man selbst nicht schuld daran ist, wenn es nicht mehr so ist wie es war. Wenn man selbst derjenige ist, der es am meisten beim Alten belassen wollte …

Und die Menschen denken darüber nach … Wie es ist, ob das überhaupt geht, im falschen Körper geboren zu werden. Was heißt das? Geht das? Und wenn ich es hätte ändern können, wäre ich dann lieber als Mann zur Welt gekommen?

Ich kann darauf nicht antworten. Genauso wenig wie darauf, ob ich mal ein Kind haben möchte. Wie soll das gehen? Soll ich mich auch in dem Bereich noch operieren lassen? Soll ich für immer so gespalten bleiben?

"In meinem Kopf sind tausend Fragen."

Wie oft werde ich es den Leuten noch erklären, wie oft die Geschichte wiederholen, immer wieder durchkauen müssen? Wie oft werden Menschen nicht verstehen, was ich fühle, was ich durchgemacht habe und welche Gedanken ich durchlebt habe? Wie sehr ich mich gehasst habe, was ich mir selbst angetan habe? Wie es sich anfühlt, die ersten Schritte in die richtige Richtung zu gehen, zu erkennen, was einem fehlt, und dann den schwierigsten Weg gehen: sich dazu entscheiden, es durchzuführen. Den Point of no Return zu durchqueren und anzufangen, Hormone zu nehmen. Als Mädchen denkst du Tag ein, Tag aus und ich konnte spüren, wie das aufgehört hat. Wie ich manchmal einfach an nichts denke. Als Mädchen kannst du so einfach weinen. Und ich vermisse das, ich vermisse es so sehr, einfach loslassen zu können und eine halbe Stunde lang zu weinen. Es gibt diese Zeitspanne, in der du dann weder Junge, noch Mädchen bist und nichts, durch das du dich identifizieren kannst, kein Geschlecht, denn du bist halb Mädchen und halb Junge. Wie sollen dich die anderen nennen? Wer bist du für dich selbst? Wie willst du in Zukunft heißen, denn Namen identifizieren und bezeichnen dich, wie also würdest du gerne heißen, denn du kannst es dir aussuchen!

Ich habe Angst davor, vielen Menschen, denen ich noch begegnen werde, die Geschichte erzählen zu müssen, Angst, dass es nie einfach mein Ich sein wird, sondern immer ein Geheimnis, das ich mit mir herumtrage. Angst, dass ich mich verlieben und nicht akzeptiert werde. Angst, dass ich Kinder haben will und nicht weiß wie. Angst, auch einfach davor, dass jemand auf der Jungstoilette aus Versehen die Tür aufmacht.

"Aber ich bin glücklich."

Ich stehe vor dem Spiegel und erkenne mich, erkenne, wer ich bin und immer sein wollte, was gefehlt hat und was ich nun bin. Wer ich sein möchte und wie ich gesehen werden will. Und mit allem, was ich erlebt habe, möchte ich anderen helfen. Möchte ich die Welt zu einem offenerem Ort machen, an dem die Menschen miteinander reden. Jeder führt einen Kampf, und nur die Dummen urteilen nach der Oberfläche. Es ist immer etwas darunter. Ich möchte, dass jeder versucht, die beste Version von sich selbst zu sein um damit Menschen wie mir zu helfen, das Leben zu vereinfachen. Und immer, bevor man urteilt, sich selbst zu fragen: Wer bin ich eigentlich? Wie gut kenne ich mich? Damit Du dich selbst und andere lieben kannst.

Wir lächelten uns an, standen auf und gingen in unser Café. Ich hatte meinen Teil getan, jetzt waren sie an der Reihe.

Text: Melanie Samouaire
Melanie Samouaire wurde 2001 in Frankfurt am Main geboren und fand dort neben der großen Liebe auch jede Menge Herzschmerz, Verzweiflung und Verwirrung. Vor einem Jahr veröffentlichte sie ihr Debut „Déjà vu“ und schreibt, so oft es das Studium zulässt, Kurzgeschichten und Gedichte. Viele Texte sind autobiografisch, aber auch von Freunden inspiriert, immer mit dem Ziel, besonderen Geschichten Stimmen zu geben.

Foto: Nader Ismail



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