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Serie "Was auf uns zukommt"

1/4: Ein Stück weiter

Adis Ahmetovic ist Vorsitzender der Jugendorganisation der SPD in Hannover und Wahlkreisbüroleiter des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil. Der 24-Jährige hat einen Bachelor in Germanistik und Politik und macht zurzeit berufsbegleitend seinen Lehramts-Master fertig. Seine Eltern flohen 1992 während des Krieges aus Bosnien und Herzegowina nach Deutschland. 1998 hätte die ganze Familie durch ein Abschiebungsverfahren fast das Land wieder verlassen müssen. Auch er.

Adis Ahmetovic, Foto: Jesús Gómez

Adis, du bist Student, Vorsitzender der Jugendorganisation der SPD in Hannover, arbeitest in Vollzeit als Büroleiter des Ministerpräsidenten und bist auch noch im Verein AIAS zur Aufklärung über Blutkrebs und für die Registrierung von Stammzellenspendern sozial engagiert. Hast du keine Angst vor einem frühzeitigen Burnout?

Nein. Man sollte nichts machen, was keinen Spaß macht. Burnout kriegt man nur dann, wenn eine Sache Druck oder negativen Stress verursacht. Meinen Beruf sehe ich als Berufung, mein Engagement als Leidenschaft. Beide Dinge erfüllen mich, anstatt mich unter Druck zu setzen. Und wenn ich Stress habe, spüre ich positiven Stress, der mir Energie gibt und nicht nimmt.

Bei den Worten „heimisch, sicher, angekommen“ fiel dir sofort „Sahlkamp“ ein. Warum treffen wir uns hier?

Man darf nicht vergessen, wo man herkommt. Auf der einen Seite darf und möchte ich nicht die Familie in Bosnien vergessen, meine Wurzeln und die meiner Eltern. Auf der anderen Seite: Wo bin ich groß geworden? Wo habe ich gelernt zu malen, zu lesen, zu schreiben? Wo bin ich zur Schule gegangen? Wo habe ich meine ersten Freunde gehabt und wo bin ich zum ersten Mal vom Fahrrad gefallen? Das war alles hier im Sahlkamp.

Leute verbinden den Sahlkamp mit viel Negativem: Die Kinderarmut ist in diesem Stadtteil am zweitstärksten in der Stadt Hannover ausgeprägt, die Kriminalität war lange Zeit hoch und hier leben gefühlt mehr Menschen mit Migrationshintergrund als „deutsche“ Bewohner. Viele empfinden sich als fremd, wenn sie hier sind. Andere fühlen sich nicht willkommen oder meinen, sie seien noch gar nicht richtig angekommen. Ich denke, dass dieser Stadtteil die beste Vorbereitung für mich auf ein Großstadtleben, auf zukünftige Aufgaben, auf Globalisierung und Gerechtigkeitsdebatten gewesen ist.

Ich habe hier über zehn Jahre gelebt und kenne keine Berührungsängste. Ich bin mit Leuten aufgewachsen, die komplett gegensätzliche Meinungen vertreten und unterschiedliche Mentalitäten haben. Auch deshalb habe ich kein Problem, verschiedenen Kulturen Offenheit zu zeigen. Ich kann mit allen Menschen reden. Ich bin diesem Stadtteil sehr dankbar.

Was heißt für dich Sicherheit?

Sicherheit hat für mich primär damit zu tun, eine Bleibe, ein Dach über dem Kopf zu haben, denn der einzige Ort, zu dem du zurückgehen kannst, an dem du geschützt vor der Öffentlichkeit bist, ist dein Zimmer, deine eigene Wohnung.

Der nächste Aspekt wäre, keine Angst vor Armut zu haben, sich ein bedürfnisgerechtes Leben leisten zu können. Aber Sicherheit bedeutet für mich auch, so leben zu können, wie es mir gut geht, dass ich meine Kultur ausleben und meinen Interessen nachgehen kann – ein respektvolles Miteinander ist mir dabei sehr wichtig.

Kannst du die erste Erinnerung deines Lebens beschreiben?

Meine erste Erinnerung ist ein Geburtstag mit meinen Eltern, meinem Bruder, meiner Großmutter und der restlichen Familie hier im Sahlkamp. Es ist für mich eine schöne Erinnerung, weil es solche Familientreffen kaum noch gibt. Viele wurden '98 abgeschoben. Sie wohnen in den USA, ein Teil in Australien, andere wohnen in Kanada. Das ist was ein Krieg auslöst: Zuerst flieht man aus seiner Heimat in ein fremdes Land, das Land trennt einen nach einiger Zeit wieder, man wird abgeschoben und lebt zerstreut auf dem gesamtem Globus.

Wieso solltest du abgeschoben werden, obwohl du hier geboren wurdest?

Ich bin in einer Zeit geboren, in der meine Familie nur einen Duldungsstatus hatte und keine Aufenthaltserlaubnis. Deutschland hat damals eine absolut konservative Einwanderungs- und Integationspolitik gehabt. Als ich fünf Jahre alt war, haben wir den Abschiebungsbrief mit der Mitteilung bekommen, dass wir Deutschland verlassen müssen. Gemeinsam mit unserem Rechtsanwalt Dr. Matthias Miersch haben wir gegen die Abschiebung juristisch gekämpft. Schließlich durften wir bleiben.

Wir hatten sehr viel Glück. Meinen deutschen Pass habe ich erst 2015 bekommen, obwohl ich in Hannover zur Welt gekommen bin, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist, obwohl ich deutsche Freunde habe und obwohl ich Deutsch und Politik studiert habe. Aber ehrlich gesagt blicke ich nicht verärgert zurück. Ich weiß, dass es mich schlimmer hätte treffen können. Diese Erfahrungen haben mich gestärkt. Sie erden mich und geben mir Kraft. Dieses Land und diese Stadt haben meiner Familie und mir trotzdem so vieles gegeben. Alles, eigentlich.

Was würdest du dem Jungen oder dem Mädchen von geflüchteten Eltern, die gerade in Deutschland geboren werden, für die Zukunft wünschen?

Auch wenn mich meine Geschichte zu dem starken Mann gemacht hat, als der ich mich jetzt fühle, wünsche ich dem Kind trotzdem ein einfacheres Leben. Dem Kind sollen weniger Steine in den Weg gelegt werden. Ich wünsche ihm ein Umfeld, das ihm Offenheit, Respekt und Chancen schenkt.

Was ich von dem Kind aber erwarte ist, nicht zu hoffen und nicht darauf zu warten, dass es von jemandem an die Hand genommen wird, damit es ein Teil der Gesellschaft wird. Es soll selbst die Initiative ergreifen. Integration hängt von zwei Seiten ab und man muss immer ein Stück weiter gehen als die Mitmenschen. Du bist am Anfang noch nicht der Bürger, der du gerne sein würdest. Ich bin gebürtiger Hannoveraner und ich bin ein Kind dieser Stadt. Aber erst seitdem ich selbst davon überzeugt bin, dass ich Hannoveraner und Deutscher bin, betrachteten mich andere Menschen auch als solchen.

 


Interviewer und Fotograf: Jesús Gómez | aktualisiert, zuerst veröffentlicht in Cameo Magazin #3 (Februar 2017)