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"Wir sind verantwortlich."

2015 gingen die Bilder von ertrinkenden Menschen im Mittelmeer durch die Nachrichten. Einige junge Europäer_innen beschlossen ganz konkret etwas zu tun und gründeten Jugend Rettet. 2016 wurde Geld gesammelt, ein Schiff gekauft und umgebaut. Bis das Schiff beschlagnahmt wurde, war die Crew in vielen Missionen auf dem Mittelmeer unterwegs um Seenotrettung zu leisten. Ein Interview mit Julian Pahlke über Politik, rechte Think Tanks und Verantwortung.

Wie bist du zur Seenotrettung gekommen und wird man auf die Verhältnisse an Bord eines Schiffs vorbereitet? Lässt einen das los?

Ich war auf der ersten Iuventa Mission im Herbst 2016. Ich wollte helfen, weil mir die damaligen Entwicklungen keine Ruhe mehr gelassen haben und ich die Not auf See als Ungerechtigkeit empfand. Nach meiner ersten Mission war klar: Ich muss weitermachen. Dann habe ich mich aktiv in die Organisation eingebracht. Vor einer Mission bekommen wir psychotherapeutische Betreuung: Wie reagiert der Körper auf bestimmte Situationen, auf übermäßigen Stress, Übermüdung, Tod oder Leid? Das sind Dinge, die wir gesehen haben, mit denen wir fast täglich konfrontiert wurden. Es sind Menschen vor unseren Augen ertrunken, weil wir nicht die nötigen Rettungsmittel hatten. Das sind natürlich Dinge, die mich ganz persönlich mein Leben lang beschäftigen werden. Deshalb glaube, dass die Seenotrettung auch für mich zu einem Lebensthema geworden ist. Ich kann mich davon nicht mehr frei machen.

Wie hat sich die Arbeit von Jugend Rettet im Laufe der Zeit verändert?

Als wir angefangen haben, wurden wir als Helden betitelt. Wir waren nie Helden und sind es auch heute nicht. Helden haben Superkräfte, wir dagegen haben einfach nur ein Schiff gekauft. Wir wurden in der öffentlichen Wahrnehmung überhöht, was der Arbeit aber durchaus geholfen hat. Das schlug aber relativ schnell um, als konservative Parteien oder Gruppen uns dafür verantwortlich machten, dass Menschen sich auf die Flucht begeben. Daran haben sich Thomas de Maizière, Horst Seehofer, Marco Minitti und sein französischer Amtskollege aktiv beteiligt und öffentlich Dinge wiederholt, die ursprünglich in einem rechten Thinktank entstanden sind.  

Also die Idee, Seenotrettung in die Verantwortung zu ziehen kommt von einem Thinktank?

Wir sind auf einen niederländischen Thinktank gestoßen, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Dieser hat Thesen in die Welt gesetzt, dass wir Absprachen mit Schleppern treffen, dafür Geld bekommen und die Menschen dann quasi auf See locken würden. Diese Thesen haben es auf absurde Weise in die Münder von drei Innenministern geschafft. An dieser Stelle kippte die öffentliche Wahrnehmung massiv gegen uns. Diese Verschiebung des Diskurses ging über in eine Kriminalisierung der Seenotrettung und diese Auswirkungen halten bis heute an. Unsere Arbeit ist viel schwieriger geworden. Wir hatten im Sommer 2016 dreizehn Rettungsschiffe. Heute ist gar keins mehr da.

Ein Vorwurf euch gegenüber ist, die Seenotrettung bewirke, dass sich mehr Menschen auf den Weg machen würden. Deshalb sei die Kontrolle der Seenotrettung gleichbedeutend mit einer Grenzsicherung.

Grenzsicherung zu welchem Preis? Dass man Menschen ertrinken lässt oder sie in Lagern der Folter aussetzt? Das ist kein Preis, den unsere Generation bereit ist zu zahlen. Diesen Vorwurf haben wir häufig gehört. Auch dieser stammt aus eben diesem rechten Thinktank. Die Universität Oxford hat eine Studie verfasst über den Zusammenhang von Rettungskapazitäten und der Anzahl von Menschen, die sich auf See begeben. In der Studie ist klar zu erkennen, dass es keine Zusammenhänge gibt. Es gibt folgende Situationen: Wenige Menschen brechen zu Zeiten mit großer Rettungskapazität auf; viele Menschen bei wenig Kapazität. Damit ist der sogenannte Pull-Faktor widerlegt. Worüber zu wenig berichtet wird, sind die Gründe, warum Menschen aufbrechen müssen. Nehmen wir zum Beispiel Libyen: Dort herrscht momentan Bürgerkrieg, gleichzeitig sitzen  Zehntausende in Lagern in denen gefoltert, gemordet und vergewaltigt wird. Diese Menschen unternehmen zu Recht alles, um dem Land und den Zuständen zu entkommen.

 

 

»Es wäre schön, wenn man uns nicht bräuchte. Schon mit unserer Gründung 2016 wollten wir zeigen, dass, wenn es eine Gruppe junger Europäer*innen möglich macht, ein Schiff zur Seenotrettung zu schicken, dann schafft es die EU erst recht.«

 

 

Bei der Seenotrettung geht es eigentlich darum, Leben zu retten und nicht um die große Politik.

Das ist mir zu kurz gedacht. Wenn wir konkret über die Seenothilfe sprechen, ist die politische Entscheidung ausschlaggebend. Das Problem wurde politisch verursacht. Man hat mit der „Operation Sophia“ versucht, Schlepper zu bekämpfen und dann gemerkt, dass es nicht funktioniert. Schlepper sind ein Symptom und nicht die Ursache von Flucht. Wo Menschen auf der Flucht sind, entstehen Schlepperstrukturen. Als man feststellen musste, dass Schlepperstrukturen nicht bekämpft werden können, hat man sich eben auf die Brücke nach Europa fokussiert, die wir bilden. Also hat man angefangen, uns zu kriminalisieren. Mit Sicherheit hat Rettung immer mit Menschlichkeit zu tun, aber es gibt eine völkerrechtliche Pflicht zur Rettung. Es existiert auch eine Verantwortung, die man Menschen auf der Flucht gegenüber hat, egal ob auf dem Mittelmeer, in der Sahara oder im Sahel. Ich glaube, es ist am Ende schlicht und einfach eine Pflicht, sich für diese Menschen einzusetzen.

Der Versuch, private Seenotrettung zu stoppen, fand unter der Behauptung statt, staatliche Organe wären in der Lage, diese Aufgabe zu übernehmen. Ist das denn so?

Es wäre schön, wenn man uns nicht bräuchte. Schon mit unserer Gründung 2016 wollten wir zeigen, dass, wenn es eine Gruppe junger Europäer*innen möglich macht, ein Schiff zur Seenotrettung zu schicken, dann schafft es die EU erst recht. Natürlich wäre es möglich, auch mit staatlichen Mitteln Seenotrettung zu stemmen, das hat die Mission Mare Nostrum gezeigt, die damals vielen zehntausend Menschen das Leben gerettet hat. Aber das war eine Mission mit explizitem Such- und Rettungsauftrag. Bei der Operation Sophia wurde nur gerettet, wenn man auf ein Schiffsunglück aufmerksam wurde, es wurde aber nicht proaktiv nach Verunglückten gesucht.

Welche Möglichkeiten gibt es noch, Menschen in Seenot zu helfen?

Ein anderes Beispiel, wie man politisch gegen das Ertrinken im Mittelmeer vorgehen könnte, wäre ein europäisches, humanitäres Visum. Menschen mit diesem Visum könnten, um nach Europa zu kommen, mit dem Flugzeug oder dem Schiff, auf sicherem Weg, kommen und dann bräuchte man die Seenotrettung gar nicht. Das ist keine Utopie sondern es ist realistisch möglich. Das europäische Parlament hat die europäische Kommission aufgefordert dazu einen Entwurf vorzulegen, was sie bis heute nicht getan hat. Die Frist ist am 31. März  abgelaufen und es ist unwarscheinlich, dass da noch etwas kommt. Wenn man für dieses Visum eine Grundlage braucht, die zeigt wer schutzbedürftig ist, gibt es die Genfer Flüchtlingskonvention. Das ist eine international gültige Konvention, auf die sich die Weltgemeinschaft geeinigt hat.

Die italienische Staatsanwaltschaft hat euer Schiff, die Iuventa, beschlagnahmt und ermittelt gegen Jugend Rettet. Was sind die Vorwürfe?

Weder gegen Jugend Rettet noch gegen die Crew läuft derzeit eine Anklage. Wir vermuten aber, dass ein Verfahren gegen die zehn Crewmitglieder eröffnet wird. Was uns vorgeworfen wurde, ist die Beihilfe zur illegalen Einreise: Wir hätten uns mit Schleppern verabredet, hätten Boote zurück zur libyschen Küste gebracht, hätten Boote nicht zerstört und hätten mit Menschenhändlern auf See zusammengearbeitet. Dazu wurde Material gesammelt, Bildmaterial ausgewertet, unsere Telefone abgehört und die Brücke der Juventa verwanzt, um die Aktivitäten an Bord des Schiffs abhören zu können. Die perfideste Aktion der italienischen Staatsanwaltschaft ist aber, dass man auf dem Schiff einer anderen Hilfsorganisation zwei verdeckte Ermittler eingeschleust hat. Das waren zwei ehemalige Polizisten, die heute für eine private Sicherheitsfirma arbeiten. Das Schiff dieser Organisation war gechartert, der Vercharterer hatte als Bootseigner das Recht Sicherheitsleute an Bord zu bringen, die dann aber wiederum vom italienischen Geheimdienst kontaktiert wurden, um als Informanten gegen die Seenotretter*innen Material zu sammeln. Dass diese zwei Sicherheitsleute zur Identitären Bewegung in Italien gehören und der Chef dieser Sicherheitsfirma auch noch zur rechten Partei Lega Nord, macht die ganze Sache noch perfider. Das heißt am Ende hatte eine Organisation zur Seenotrettung Mitglieder der Identitären Bewegung an Bord, die sie ausspioniert haben. Die Iuventa ist bis heute beschlagnahmt auf Basis eines „Antimafia-Paragraphen“, der es eben erlaubt einen Gegenstand oder in dem Fall ein Fahrzeug präventiv zu beschlagnahmen. Man hat also die Vermutung, dass mit diesem Gegenstand eine Straftat begangen sein könnte, muss aber noch Beweise sammeln und solange man damit nicht fertig ist, bleibt der Gegenstand beschlagnahmt.

 

 

»Man kann sich aktiv einsetzen und Politiker*innen spüren lassen, dass man nicht einverstanden ist, mit der Art und Weise wie gerade Politik gemacht wird.«

 

 

Das heißt, im Moment ist die Arbeit von Jugend Rettet auf dem Meer stillgelegt?

Wir sind jetzt gerade damit beschäftigt, die zehn Crew-Mitglieder zu unterstützen, gegen die gerade ermittelt wird. Das kann leider richtig hässlich werden. Es drohen bis zu 20 Jahre Haft. Stefan Schmidt, der Kapitän der „Cap Anamur“, gegen den in Italien vier Jahre ein Prozess lief, wurde zwar letztendlich freigesprochen, der Prozess hat aber eine hohe sechsstellige Summe gekostet. Das waren zwei Personen. Bei uns geht es zum zehn Personen. Das ist natürlich eine massive Aufgabe. Wir haben die gesamte Ermittlungsakte durchgearbeitet und mithilfe des Kollektivs „Forensic Architecture“ die Vorwürfe rekonstruiert. Wenn man das und gleichzeitig die Anschuldigungen in der Ermittlungsakte betrachtet, dann wird es einem Angst und Bange. Es ist nicht nur dilettantisch, wie dort vorgegangen wurde, sondern, und das sage ich ganz bewusst, vorsätzlich. Gleichzeitig bereiten wir gerade eine Klage vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor, um die Iuventa wieder zu bekommen.

Inwiefern ist eure aktuelle Situation auch eine Chance, sozusagen Lobbyarbeit zu leisten und über diese Entwicklung aufzuklären?

Das machen wir gerade. Wir sprechen mit vielen Politiker*innen in Deutschland, in anderen EU-Ländern, bei der UN in Genf oder mit anderen Organisationen. Wir gehen aber beispielsweise auch in Schulen und halten aktuell viele Vorträge. Wir und andere Organisationen merken, dass wir eine kleine Seenot-Rettungsblase sind, unser Wissen muss raus in die Welt. So wie wir hier heute sitzen, berichten wir Parteien, Organisationen und allen, die sich dafür interessieren. Es muss darüber gesprochen werden, was auf See gerade passiert.

Was kann man tun? Wie kann man euch helfen? Wie kann man sich vielleicht selbst engagieren?

Ich glaube es gibt mehrere Dinge, auf die man gerade schauen muss. Zunächst einmal die Situation in Libyen, die in den Medien völlig unterrepräsentiert ist. Darüber muss dringend mehr berichtet werden! Es gibt eine wahnsinnig gute Journalistin, Sally Hayden, die Kontakt zu den Menschen in den Detention Centers aufgebaut hat. Sie schreibt großartige Artikel zu diesem Thema, aber ich habe das Gefühl sie ist damit ziemlich allein. Das ist also vielleicht der freundliche Wink mit dem Zaunpfahl an die anderen Journalist*innen, darauf aufmerksam zu machen. Die Situation in diesen Lagern, dass es diese Lager überhaupt gibt, das ist das Resultat von Abschottung, das ist das Resultat der Kriminalisierung der Seenotrettung.

Das nächste Gebiet, ist das Mittelmeer auf dem immer noch wahnsinnig viel passiert. Es gibt immer noch zu wenig Rettungsschiffe, also sollte man die Organisationen unterstützen, die dort rausfahren wollen oder können. Und wenn man sich in Deutschland engagieren will, dann definitiv mit der Seebrücke. Man kann sich aktiv einsetzen und Politiker*innen spüren lassen, dass man nicht eiverstanden ist, mit der Art Weise wie gerade Politik gemacht wird. Jedes Büro von Bundestagsabgeordneten hat eine Email-Adresse oder Telefonnummer. Es gibt in über 40 Städten Demonstrationen, denen man sich anschließen kann. Aber auch hier in Deutschland gibt es großartige Initiativen, die sich für Geflüchtete einsetzen, die schon dort sind, die auch bei uns nicht unter optimalen Bedingungen leben. Auch dort kann man aktiv werden.

Denn nur weil es in Libyen geschieht heißt das nicht, dass wir damit nichts zu tun haben. Weil Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken, heiß das nicht, dass wir uns unserer Wahrnehmung und Verantwortung entziehen dürfen. Genau das Gegenteil ist der Fall! Wir sind verantwortlich, direkt! Und dieser Verantwortung müssen wir gerecht werden.

Vielleicht muss auch mehr darüber gesprochen werden, dass Flucht und die Art und Weise wie wir Leben unmittelbar zusammenhängen.

Ja! Wir müssen aktiver werden, denn das wird uns noch sehr lange begleiten, vor allem unsere Generation und die folgenden werden zwei Dinge beschäftigen: Das eine ist Migration und das andere ist der Klimawandel und beides hängt direkt miteinander zusammen, dieser Realität müssen wir uns langsam mal bewusst werden. Zum Glück gibt es jetzt Fridays for Future, zum Glück gibt es die Seebrücke. Ich glaube es findet langsam eine Einsicht statt, diesen Zusammenhang stärker zu erkennen und ich glaube auch dieses Jahr wird es mit solchen Demonstrationen weitergehen. Wir haben gerade eine Diskursform erreicht, die viel auf der Straße stattfindet! Das ist großartig, aber damit dürfen wir nicht aufhören!


Interview & Fotos: Julius Matuschik