Jedes Detail hat Bedeutung
Es ist eine außergewöhnliche Graphic Novel, die Shaun Tan vorgelegt hat: Ohne erklärende Worte sprechen Bilder für sich. Erzählt wird die Geschichte eines Immigranten, die stellvertretend stehen könne für die Geschichten aller - so urteilte die New York Times. Finden sich Einwanderer in den Bildern wieder?
»Egal wie schwierig, Menschen geben nicht auf. Sie entrinnen dem Bösen. Sie kümmert keine Schwierigkeit, nicht ihr Leben zu riskieren. Diese Art von Bild ist, wonach ich gesucht habe. Wo alles zerstört ist, da ist nichts, das zum Bleiben bewegt.
Du kannst Mauern bauen, die Grenzen überwachen und Menschen wird es nicht aufhalten. So wie diesen Mann. Ich erkenne meinen eigenen Weg darin. Ich habe eine Mutter mit drei Kindern gesehen. Es ist schwer, so durch die Sahara zu kommen. Aber deswegen geben sie nicht auf. Es geht nicht nur um Geld, es geht um ihr Leben.
Du kannst gewinnen oder verlieren. Das Spiel kennen alle Weltbürger, jeder Migrant. Weil sie keine Wahl haben.«
Million, 24, geflüchtet aus Asmara, Eritrea
In seiner Graphic Novel "The Arrival" ("Ein neues Land, Carlsen Verlag) folgt Shaun Tan einem Familienvater. Dieser flüchtet in eine andere Welt und muss sich in neuer Umgebung zurechtfinden. Er wartet auf seine Frau und die gemeinsame Tochter. Das Buch begleitet ihn unter anderem auf der Suche nach Arbeit oder nach einer Wohnung. In eingeschobenen Sequenzen erzählen ihm andere Geflüchtete ihre Geschichten.
Seit Mitte 2015 dominiert der Begriff „Flüchtlingskrise“ die Berichterstattung. Allein in Deutschland gab es im letzten Jahr laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 475.000 Asylanträge. 270.000 mehr als im Vorjahr. Zahlen des hohen Flüchtlingskommissars der vereinten Nationen (UNHCR) verdeutlichen den Trend: 62,5 Millionen Zwangsvertriebene 2015, erneuter Rekord seit dem zweiten Weltkrieg. In den letzten fünf Jahren registrierte das UNHCR ein Wachstum von über 50 Prozent. 3,2 Millionen sind asylsuchend.
Von Januar 2015 bis September 2016 erteilten deutsche Auslandsvertretungen laut auswärtigem Amt allein circa 60.000 Visa im Familiennachzug für Syrer. Schwedens „Migrationsverket“ registrierte von Januar 2015 bis November 2016 knapp 30.000 Erlaubnisse für Elternteile oder Kinder aller Nationen, ihrem Angehörigen ins Land zu folgen. Völkerwanderung ist Teil der Menschheitsgeschichte. 2007 veröffentlichte Klaus Bade eine Enzyklopädie für Migration, Ergebnis einer Studie der Universität Osnabrück. Sein Ergebnis: „Migration ist der Normalfall der Geschichte.“
»Das Bild transportiert ein Gefühl. Es erinnert mich an Bilder der Schiffe, die vor ungefähr dreißig Jahren in den Libanon kamen. Viele Menschen flohen vorm Bürgerkrieg in Richtung Australien. Diese Schiffe waren groß und es dauerte seine Zeit. Aber sie wussten, dass sie ihr Ziel erreichen würden.
Ich reiste nicht so nach Europa. Ich hatte ein gutes Schiff. Aber ich kenne viele, die heute einen gefährlichen Weg zurücklegen. Was ich von ihnen höre sind traurige, schreckliche Geschichten. Es ist beängstigend in den kleinen Booten. Sie wissen nicht, ob sie überleben werden.
Es schaut aus, als spiele es in den 1970ern. Die Welt ist heute ganz anders. Auf den ersten Blick dachte ich, es ist ein uraltes Buch. Vielleicht will er sagen, dass für Migranten nichts geändert hat. Aber du lebst in der weiten Welt, wo alles einfach ist. Kommunikation zum Beispiel.
(…) Das Buch spiegelt nicht mehr das reale Leben. Ich bin aus der Hauptstadt. Es ist kaum anders als Berlin. Sie essen anders, aber es ist nicht wie auf einem anderen Planeten. Trotzdem schätze ich seine Arbeit. Es wirkt wie eine Traumwelt.«
Ahmad, 40, geflüchtet aus Damaskus, Syrien
Tans Buch macht keine Zeitangaben. Es spielt in einer Fantasiewelt ohne klare Referenzen. Vier Jahre arbeitete Tan an der Story und den Zeichnungen in Sepia-Optik. Diese versetzen ins fremde Land mit suspekten Schriftzeichen, Tieren oder Gebäuden. Das Buch erinnert an ein altes Familienalbum. Jedes einzelne Quadrat ist fotorealistisch und weiß, durch seine Handlung zu führen. Der Geschichte kann jeder folgen. Bildunterschriften oder Sprechblasen gibt es nicht. Allgemein fehlen Wörter, die Missverständnissen des Betrachters vorbeugen – mit Absicht: Tan lässt Leser die Sicht Geflüchteter einnehmen. Eine Perspektive geprägt von Fragen und Unverständnis.
»Das ist mein Bild. Du siehst in den Details, dass sie Angst haben. Das meine ich mit der Erzählweise. Hier: Die starke Verbindung und die Gefühle zwischen beiden. (…) Du siehst den Schock in seinem Gesicht. Du siehst, wie er sich in dieser Umgebung findet. Wo er überhaupt nicht weiß - wie gehe ich meinen Weg weiter?
Die langen Gebäude sind Fantasie. Diese Orte gibt es nicht, aber er beschreibt Gefühle. Mich begeistert, wie der Künstler sich solche Situationen ausgedacht hat. Ich glaube, keiner kann das bemerken. Nur die Leute, die es erlebt haben. Diese Fremdheit, das ist ein Gefühl und kein Gedanke. Das ist kein Gedanke, weil du mit deinen Gedanken umgehen kannst. Aber deine Gefühle kannst du nicht beschränken. Es trifft dich in jedem Moment. Egal, wohin du gehst. Wenn es ein Gedanke wäre, dann könntest du ihn einfach vorbeiziehen lassen. Aber das kannst du nicht.«
Najem, 23, geflüchtet aus Idlib, Syrien
Najem ist Fotograf. Ihn fasziniert der Detailreichtum des Werks: „Was ich stark finde ist, dass es einen Fluchtweg beschreibt, den der Autor überhaupt nicht erlebt hat. (…) Deswegen finde ich es auch so toll, dass er mit Details gearbeitet hat. Das ist ganz krass. Sofort, wenn du sie siehst: Jedes Detail hat Bedeutung für ihn. Das bewundere ich. (…) Denn jedes Detail, das er beschreibt, ist richtig.“
Tans Buch ist außergewöhnlich. Es transportiert Gefühle und eine Stimmung, die authentisch ist. Aber nicht jeder Geflüchtete erkennt sich selbst darin wieder. Außenstehende haben es noch schwerer, die Perspektive des Familienvaters nachzuvollziehen. „Jemand der sein Leben lang in Deutschland wohnt, kann uns nicht verstehen, wenn er das Buch in die Hände bekommt“, sagt Najem. „Der möchte es überhaupt nicht verstehen. Es ist für ihn merkwürdig. Es ergibt überhaupt keinen Sinn. (…) Wenn du Nachrichten hörst, liest, versteht du. Aber nicht jedes Detail. Wie gerade eben bei der Untersuchung. Du hast das überhaupt nicht richtig verstanden. Er wird nicht einfach untersucht. Er wird registriert, er wird zigmal untersucht, bekommt zig Scheine. Und das ist hier in Deutschland auch so passiert. Das ist in Friedland auch 100 Prozent so passiert. Wenn die Leute sich auch mit so etwas beschäftigen, dann erkennen sie es. (…) Das Buch ist für die Leute gemacht, die verstehen. Es ist schwierig. (…) Aber es ist auch für Leute, die es erlebt haben. Die verstehen, was es bedeutet.“
»Das Bild beschreibt meine Geschichte zu 100 Prozent. Sie stehen in Reihe. Als wir nach Deutschland gekommen sind, haben wir genau solche Situationen erlebt. Zum Beispiel in Friedland: Wir haben unser Essen dort von einem Restaurant gekriegt. Frühstück, Mittag und Abendessen. Wir mussten vier Stunden fürs Frühstück anstehen, haben eine kurze Pause gemacht und uns dann vier Stunden fürs Mittagessen angestellt. Sonst hatte man kein Essen.
Ich war nie im Gefängnis. Aber was ich aus Filmen kenne, da sah es besser aus als in Friedland. Die Unterkunft war riesig. 5000 Leute waren da. Und die mussten alle in einer Schlange aufs Essen warten. Das war meine schlimmste Zeit in Deutschland, ich war 22 Tage da.«
Aser, 42, geflüchtet aus Aleppo, Syrien
Jeder Geflüchtete hatte Erlebnisse, die schwer zu verarbeiten sind. Aber sie lassen sich nicht verallgemeinern. Um Geflüchtete besser zu verstehen, gibt es nur einen Weg: Mit ihnen in Kontakt kommen. Kein Buch kann die Geschichte aller Migranten verständlich machen. Jeder hat die Möglichkeit verdient, die eigene Geschichte zu erzählen.
Autor: Lennart Kühl | Besprechung zu: Shaun Tans Graphic Novel "The Arrival"/"Ein neues Land" erschienen 2006. Carlsen Verlag.