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Mittelinsel

von Claire Walka


Ich neige meinen Kopf nach rechts und höre es knacken. Rolle meine Schultern, wieder ein Knacken, strecke die Arme in die Höhe und ziehe meinen ganzen Körper in die Länge. Der verdammte Berg vor mir wird einfach nicht kleiner, und ich will gar nicht wissen, wie viele Säcke Blumenerde ich diesen Morgen schon herumgeschleppt habe. Wann darf ich endlich mal den Gabelstapler fahren, statt den Packesel zu spielen? Aber Josh lässt mich nicht ran. Selbstgefällig springt er aus der Fahrerkabine und gibt mir ein Zeichen, weiter zu machen. Als er außer Sichtweite ist, setze ich mich auf den hellgrünen Säckeberg. Kurz vor Mittag sind nie besonders viele Kunden im Laden. Bei den Pflanzenkübeln taucht ein Mädchen auf, kaum älter als ich. Unentschlossen läuft sie durch die Reihen mit Gartenblumen, ihr dunkler Pferdeschwanz wippt. Sie bemerkt, dass ich sie beobachte. „Welche würdest Du nehmen?“ ruft sie mir zu. „Die Blauen!“ antworte ich. „Okay!“ Sie schnappt sich zwei Töpfe und klettert blitzschnell über den Absperrzaun nach draußen. „Halt!“ brülle ich, laufe zum Zaun, sie zwinkert mir noch einmal zu und rennt davon. Verdammt, was jetzt, soll ich Josh rufen oder gleich selbst hinterher?

Ich finde ihre Spur durch ein paar verloren gegangene Blütenblätter, endlich kommt ihre Silhouette in Sicht. Sie läuft unermüdlich weiter, ihr Pferdeschwanz schwingt fröhlich auf und ab, während mein Herz rast, mir Blut ins die Wangen schießt und ich weiß, dass ich gleich nicht mehr kann. Dann wird sie sich am Horizont verlieren und ich mich fragen, ob ich das alles nur geträumt habe. Doch da schaut sie sich um, sieht mich an und bleibt stehen. Als ich sie außer Atme erreiche, wirft sie mir ein paar Blütenblätter ins Gesicht und lacht so ansteckend, dass es eine ganze Weile dauert, bis wir uns wieder einkriegen. Sie mustert mich neugierig, und ich möchte etwas sagen, aber mir fällt nichts ein, ich kenne sie ja gar nicht.
„Hast Du Zeit?“ fragt sie, und ich nicke, obwohl ich längst zurück zum Baumarkt müsste. Aber der Tag ist so unerwartet schön, die Sonne kitzelt, die Flugzeuge hinterlassen Zickzacklinien im Blau, und das Moped, für das ich hatte sparen wollen, ist mir mit einem Mal vollkommen egal.

„Wie heißt du?“ frage ich. „Wie Du willst“, antwortet sie. „Lulu“ platzt es mir heraus, ich weiß auch nicht, warum, wo ich doch lieber ihren echten Namen wüsste. „Lulu“, wiederholt sie langsam und nickt. „Warum nicht!“

„Jetzt Du!“, sage ich. „Max!“, sagt sie und ich zucke zusammen. „Wie, Max… Woher weißt Du das?“, frage ich. „Telepathie!“, sagt sie mit ernster Mine. „Wirklich?“, frage ich. Sie lacht. „Dass Du nicht von selbst drauf kommst!“  Sie zeigt auf mein Namensschild vom Baumarkt. Verdammt, ich bin ein Idiot. Aber es ist trotzdem nicht fair, dass sie meinen echten Namen weiß, ich ihren aber nicht. „Jetzt sag schon!“ „Lulu!“ „Klar…“ Ich drehe mich um, tue so, alle wolle ich zurück zum Baumarkt, doch sie holt mich ein. „Ist doch egal! Lulu passt viel besser“! sagt sie, und ich starre auf ihre abstehenden Eckzähne während ihr ungestümes Lachen mich längst überzeugt hat. Wir lassen das Gewerbegebiet hinter uns, erreichen den großen Kreisverkehr, auf dem die Autofahrer wie immer drängeln und hektisch die Spuren wechseln.

„Lass uns rüber“, sagt Lulu, zeigt auf die Mittelinsel und drückt mir einen Blumentopf in die Hand. Sie winkt den Autofahrern zu und rennt los, als sich eine Lücke auftut. Ein Auto bremst scharf, mehrere hupen. Ich nutze die Verwirrung, um Lulu zu folgen. Sie lässt das zerfledderte Gras, hochgewachsene Brennnesseln und ein Dickicht aus verwilderten Büschen hinter sich, stellt ihren Topf ab und macht einen Handstand gegen den Pfeiler der Autobahnbrücke. „Uh, was ist das denn!“ brüllt sie und schüttelt zwei schwarz-rot gefleckte Käfer von ihren Händen. Im Gras laufen Dutzende davon herum, am Hinterteil verbunden. „Die haben Sex“, sagt sie kichernd und grinst mich an. Ich lächle verlegen, beuge ich mich vor und stelle schnell meinen Topf ab. Verdammt, das ist so was von albern, wegen Käfern rot zu werden! Egal ob sie nun Sex haben oder nicht! „Spanner!“ ruft Lulu und schubst mich, ich kippe um und bleibe liegen. Wie weit der Himmel ist, endlos Blau, mit langen Kondensstreifen, Wege ins Nirgendwo… Lulu legt sich neben mich ins Gras, breitet ihre Arme aus und schließt die Augen. Und auch wenn lauter Käfer über uns hinweg krabbeln, will ich um keinen Preis der Welt wieder aufstehen, sondern einfach nur liegen bleiben, von mir aus, bis wir mit Moos überwachsen sind. Ich betrachte Lulu, wie sie ruhig atmend daliegt, die Augen geschlossen, die Hände im Gras. Ihre Nase biegt sich neugierig nach oben, ihre dunklen Wimpern vibrieren leicht im Wind und die vielen Sommersprossen lassen sie ein wenig verwegen aussehen.

„Wart ihr schon einmal so richtig, richtig glücklich?"

Wart ihr schon einmal so richtig, richtig glücklich? So dass es in Euch summt, als wäre da ein Bienenschwarm? Kennt ihr das? Dass man glücklicher ist, als man es jemals war und es wahrscheinlich nie wieder sein wird? Eine einzige Minute von diesem Glück lässt die Ewigkeit zusammenschrumpfen, so uferlos ist es, man will, dass es nie mehr aufhört, oder einfach alles aufhört, ganz plötzlich, mit einem lauten Knall! BUMM! Das Leben, das Denken, das Zweifeln, alles wird weggefegt durch etwas Großes, Gewaltiges, etwas, das mindestens so groß ist wie dieses Glücksgefühl, oder noch größer, noch gewaltiger, vielleicht sogar gewalttätig, wie ein Schuss oder eine Bombe…

Ich stelle mir vor, wie Lulu und ich dort oben auf der Autobahnbrücke viel zu schnell Motorrad fahren, Fahrtwind kribbelt auf unseren Gesichtern, Lulu krallt sich an mir fest und ihre Haare fliegen in alle Richtungen. Endorphine verschleiern unseren Blick, so kommen wir von der Fahrbahn ab, ruinieren die Leitplanke, werden durch die Luft geschleudert, brechen uns den Hals und sterben von Glück zerschmettert auf der Insel.

„Genug geträumt, an die Arbeit!“, ruft Lulu, zieht mich hoch und drückt mir einen Blumentopf in die Hand. „Du bist doch Profi! Fang schon mal an!“, sagt sie. „Womit denn?“, frage ich. „Ich will diese Fläche voller Blumen sehen, mit Tomaten und Brombeeren dazwischen! Hier kann sich alles ändern, glaub mir!“ Die Vorstellung gefällt mir, sogar sehr, und so beginne ich, den Boden abzutasten und nach Stellen zu suchen, die feucht und weich sind. Als ich sie finde, graben wir uns mit den Händen immer tiefer in die Erde, und dann schauen wir sie stolz an, die blauen Blumen, die der Anfang sein sollen von etwas Großen, auch wenn wahrscheinlicher ist, dass sie hier draußen gleich wieder eingehen.

Durch eine Verkehrslücke schlittern wir zurück aufs Festland, Lulu bestellt am Kiosk Kaffee, „schwarz“ betont sie. Und obwohl ich weiß, dass der Kaffee hier immer abgestanden ist, sage ich nichts. Und dann schmeckt er tatsächlich ganz anders als sonst, so seltsam würzig, nach Adrenalin und Abgasen, als wäre nichts unmöglich, nicht einmal hier. Wir setzen uns ins Bushäuschen und ich betrachte Lulu, wie sie am Becher nippt, den Kaffee in ganz kleinen Schlucken trinkt, wie eine Kostbarkeit. Und ich erinnere mich, wie lange ich mir schon wünsche, dass das alles hier, alles, was mir so vertraut und schrecklich abgenutzt vorkommt, endlich einmal anders aussieht… Durch ein Wunder, oder einfach durch Lulus Guerilla Gardening oder weil sie in diesem Moment neben mir sitzt. Vielleicht, weil vier Augen Dinge anders sehen, als zwei, und Blicke, die sich kreuzen, etwas reflektieren können, was man bisher übersehen hat. Und so riecht die Luft nach Ferne, an diesem Tag, an diesem Ort, der in alle Richtungen zeigt, zur Autobahn, in Richtung Flughafen, bis in die weite Welt. Der Verkehr donnert vorbei, Reifen wirbeln trockenen Staub auf, Fahrtwind fegt durch den bleichen Rasen, und an der Glaspyramide transportieren Rolltreppen die Kommenden und Gehenden unermüdlich auf und ab. Alle wollen unbedingt weiter, sind tierisch in Eile, keiner verweilt, außer uns. Und so fühle ich mich ein bisschen wie ein Anderer, obwohl ich ja noch Max bin, und Lulu fragt, wohin ich fahren würde, wenn ich die Wahl hätte, jetzt sofort, aber ich will heute nicht darüber nachdenken. Nicht über die vielen Dinge, die man sich wünscht, so lange, bis es weh tut, und auf die man viel zu lange warten muss. Weil man noch nicht 18 ist, weil das Geld nicht reicht, weil sie unerreichbar weit weg sind oder weil man einfach etwas anderes muss… Und dann wartet man, bis es zu spät ist, bis man längst vergessen hat, was man einmal wollte. Das alles möchte ich Lulu sagen, aber dann fällt mir auf, dass ich in diesem Moment auf gar nichts warte und auch gar nichts vermisse, sondern nur eines will, hier sein. Also schweige ich und Lulu hört zu.

Text: Claire Walka [*1978 in Stuttgart] lebt, filmt, schreibt, forscht, experimentiert, denkt, spielt, rollt oder flaniert über oder durch alltägliche, fiktive, surreale und andere Welten. In Hamburg trifft man sie zum Beispiel als Performerin bei Smells like writers spirit * NOiSY HEART, im writers‘ room oder beim Forum Hamburger Autorinnen und Autoren.
www.clairewalka.de