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No Future?

Interview mit Ilka Y.

Wer einmal die Gesellschaft verlassen hat, findet schwer zurück. Ob ein Ankommen auf der Straße möglich ist, wie eine Drogensucht entsteht und welche Alternativen es gibt – darüber berichtet Ilka Y.

Eigentlich hat Ilka einen anderen Namen. Sie ist 36 und lebt momentan in der Clearingstelle der christlichen Einrichtung „Neues Land“ in Hannover. Dort macht sie einen betreuten Entzug und eignet sich einen geregelten Alltag an.

Du sagtest, deine Eltern haben einen Migrationshintergrund?

Meine Eltern sind beide aus Bosnien, im heutigen Jugoslawien geboren und später nach Deutschland ausgewandert. Mein Vater ist Moslem, meine Mutter russisch-orthodox. Ich selbst bin in Westdeutschland aufgewachsen.

Wieso kamen deine Eltern nach Deutschland?

Meine Mutter ist in einer Selbstversorgerfamilie groß geworden und suchte den beruflichen Aufstieg. Sie durchlebte in Jugoslawien eine Krisenzeit und nahm dann die erste Chance wahr, nach Deutschland zu kommen. Zur gleichen Zeit wurde auch mein Vater auf die Gastarbeitersuche aufmerksam. Beide kamen Ende der 60er als Gastarbeiter und haben sich schnell gut integriert: Hatten deutsche Freunde, deutsche Nachbarn, haben die deutsche Sprache schnell erlernt, Führerschein gemacht und immer schön in die Rentenkasse eingezahlt.

Du selbst bist in Deutschland geboren. Fühlst du dich als Deutsche?

Teilweise. Ich fühl mich relativ zerrissen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass meine gesamte Familie aus dem ehemaligen Bosnien kommt und zum Teil noch da wohnt. Dadurch, dass ich aber in Deutschland geboren bin, und nur die Vorzüge Jugoslawiens bis zum Kriegsbeginn mitbekommen habe, fühle ich mich mit dem Land verwurzelt. Allerdings glaube ich auch, dass es sich dabei um eine romantische Verklärung der Dinge handelt, die ich selbst dort erlebt habe, bevor der Krieg begann. Danach hat sich dann alles geändert. In der Zeit vor dem Krieg [gemeint ist der Bosnienkrieg von 1992 bis 1995, Anmerkung der Redaktion] war ich mindestens zweimal im Jahr in Jugoslawien zu Besuch und das war immer total schön.

Verbindet dich außer diesen Besuchen noch mehr mit dem Land? Die Sprache zum Beispiel?

Die Natur, die Gastfreundschaftlichkeit, der Lebensstil. Ich bin sogar dreisprachig aufgewachsen. Das hängt damit zusammen, dass ich noch sechs Jahre in einer Pflegefamilie war und meine Pflegemutter Spanisch sprach. Deshalb spreche ich Deutsch, Jugoslawisch und Spanisch.

Wie kam es dazu, dass du auch in einer Pflegefamilie gelebt hast?

Meine Mutter wollte immer finanziell unabhängig sein und arbeitete viel. Vielleicht schickte sie mich deshalb schon mit sechs Monaten tagsüber zu einer Pflegemutter. Vielleicht hatte sie auch einfach keinen Bock auf kleine Kinder, jedenfalls steigerte sich mein Aufenthalt bei der anfänglichen Tagesmutter immer mehr, bis ich im Prinzip bei ihnen wohnte. Das lief alles nie über das Jugendamt. Es war eher ein subversiver Familienwechsel.

„Schon mein Name verrät, dass ich keine Deutsche bin. In Jugoslawien verrät jedoch mein Akzent, dass ich auch da nicht hingehöre.“

Woran liegt es, dass du dich nur teilweise als Deutsche fühlst und was bedeutet es für dich „Deutsch“ zu sein? Was verbindest du damit?

Ich empfinde Deutsch als meine Muttersprache, obwohl ich mehrsprachig aufgewachsen bin. Ich liebe deutsche Literatur und Kultur. Die Philosophie, die Kunst. Ich liebe deutsche Filme, ich liebe deutsche Musik. Ich verbinde mit deutsch sein irgendwie diese „Worker-Class“-Mentalität. Nix mit Siesta und so. Allerdings fühle ich mich überall als Ausländerin. Schon mein Name verrät, dass ich keine Deutsche bin. Bin ich jedoch in Jugoslawien, dann verrät mein Akzent, dass ich auch da nicht hingehöre. Ich bin in der Hinsicht entwurzelt und das macht es ein bisschen schwierig. Ich fühle mich aber eigentlich schon deutsch.

Gibt es denn etwas, was Deutschland und Jugoslawien in kultureller Hinsicht oder in Bezug auf die Mentalität der Menschen verbindet oder unterscheidet?

Ich habe die Jugoslawen immer als sehr gastfreundlich und freiheitsliebend erlebt. Sie lieben die Freiheit in der Gesellschaft. Die Kinder liefen abends noch lange spielend durch die Straßen, auch oft mit ihren Eltern. Die Erwachsenen grillten draußen. Vielleicht ist das auch ein Teil dieser romantischen Verklärung, aber das erlebe ich hier in Deutschland nicht. Hier habe ich eher das Gefühl, dass wenn man mit seinem Kind noch abends nach acht Uhr auf der Straße ist, dann wird man schon blöd angeguckt. Das liegt, glaube ich, auch an diesem südlicheren Leben. Andererseits komme ich nicht ganz mit dieser „Pack schlägt sich - Pack verträgt sich“-Haltung klar. Man sitzt zum Beispiel in der Kneipe, alle sind großzügig, jeder will als erster die Rechnung bezahlen, Zigaretten werden geteilt. Mit dem Alkohol kommt es aber ganz schnell zu Auseinandersetzungen und dann liegt man sich wieder in den Armen und knutscht sich ab. Da sind die Deutschen etwas gezügelter. Ich glaube, man kann sich hier mehr zurücknehmen.

Wo befindest du dich zurzeit und wie kam es dazu?

Ich bin in der Clearingstation „Neues Land“ [Ein Auffanghaus für drogenabhängige Männer und Frauen, die aus der Obdachlosigkeit kommen, Anmerkung der Redaktion]. Und wie es dazu kam... Wahrscheinlich durch diese Zerrissenheit, diese Entwurzelung. In Deutschland leben mit jugoslawischen Eltern. Ich habe immer beigebracht bekommen: „Vergiss nie deine Wurzeln!“, „Sprich im Haus bitte nur Jugoslawisch, draußen aber Deutsch!“. Vor allem aber die religiösen Konflikte. Ich bin konfessionslos, da mein Vater Moslem und meine Mutter orthodox ist. Sie konnten sich wohl schlecht einigen. Meine Pflegemutter war Zeugin Jehovas, mein Pflegevater Christ. Im evangelischen Religionsunterricht wurde mir gesagt, ich sei evangelisch, obwohl ich nie getauft wurde. Damals musste ich sogar einmal zu einem Schulpsychologen, weil ich in einem Aufsatz von Jesus, Jehova und einem Harem geschrieben hatte, obwohl ich gar nicht wusste, was das alles war. Einmal wurde mir das Kreuz vom Hals gerissen, dann der Teppich in die Hand gedrückt und an einer anderen Stelle gesagt, „du kommst nicht ins Paradies“. So hat sich das bei mir durchgezogen.
Gottseidank hatte ich viele deutsche Lehrer, die mich über meinen Tellerrand blicken lassen haben. Von denen habe ich einiges zu lesen bekommen, was bei mir zu Hause – ganz nach dem Motto „Lesen macht doof“ - verboten war. Wir waren eine TV-Junky-Familie. Vielleicht habe ich auch etwas zu weit über meinen Tellerrand geschaut, mit zwölf fing ich an Drogen zu nehmen, weil mir alles zuviel war, und ich nicht mehr durchgestiegen bin. Aufgrund dessen bin ich dann hier gelandet, weil alles andere nicht funktioniert hat. Psychotherapie und ähnliches.

War Bildung für dich dann so eine Art Schlüsselerlebnis?

Auf jeden Fall. Ich habe dadurch einfach mitbekommen, was in anderen Ländern und Zeiten so lief. Außerdem habe ich mich immer für Sprache interessiert. Mein Pflegevater hat mir schon mit vier Jahren Schreiben und Lesen beigebracht. Er hatte auch viel deutsche Literatur im Bücherschrank stehen und Unmengen Schallplatten aus den 60ern. Daher kommt wohl auch meine Liebe zur Literatur, Kultur und Kunst.
Ich las viel von Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke aber auch Charles Baudelaire. In der Schule war ich, was die Literatur angeht, meist unterfordert. Allerdings habe ich mich dann auch viel mit negativen Dingen beschäftigt, was mich runterzog.

Du meinst runter in Richtung Drogen?

Ich habe früh Bücher wie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ oder „Frag mal Alice“ gelesen. Das hat mich ziemlich fasziniert, diese „No-Future“-Mentalität. Ich dachte damals „umso kaputter, desto cooler“. Richtig begonnen habe ich, als ich die Punks unserer Kleinstadt kennen lernte. Meine erste Droge war eigentlich die Musik. Dann kamen Alkohol und Zigaretten, später auch Haschisch. Mit Spritzen habe ich dann erst später angefangen, als das Jugendamt mir mein Kind wegnahm. Von da an gab es für mich kein Halten mehr. Ich wollte mich langsam zerstören.

 

Gab es in den 24 Jahren deiner Drogenabhängigkeit auch Zeiten in denen du obdachlos warst?

Ja, immer mal wieder.

Was ist das für eine Erfahrung auf der Straße anzukommen, wenn man eigentlich gewohnt ist, ein Dach über dem Kopf zu haben und nun nicht zu wissen wo man schläft oder wie der nächste Tag aussieht?

Ich glaube, wenn man das Gefühl hat, keine Wahl zu haben, dann arrangiert man sich einfach damit. Man fragt und spürt nicht weiter nach. Ich habe mich sofort angepasst, im Positiven, wie im Negativen. Das heißt also viele Begehrlichkeiten, wie ein Dach über dem Kopf, eine Heizung und sanitäre Anlagen, abzulegen. Dadurch wurden dann andere Begehrlichkeiten geweckt. Zum Beispiel immer mehr zu konsumieren und gegen den Staat zu sein, also gegen alle, denen es besser geht. All die anderen, die auch durch das System gerasselt sind, sind dann deine Freunde. Mindestens solange, wie der Stoff reicht, danach muss man schauen, wie weit die Freundschaft reicht.

„Ich glaube, umso länger du in der Szene bist, desto größer ist die Wut auf „die da oben“, auch wenn keiner weiß, was „die da oben“ eigentlich machen.“

Würdest du sagen, dass der von dir beschriebene Gesellschaftsprotest oder die Antihaltung gegen jene, welche nicht obdachlos sind, zum Ankommen auf der Straße dazugehört?

Ja. Ich glaube, selbst wenn man es nicht möchte oder eine andere Einstellung hat, rutscht man mit der Zeit unweigerlich da mit rein. Wenn ich mich zum Beispiel wochenlang nur mit den Leuten umgebe, denen es richtig scheiße geht, dann sehe ich eben auch nur das Elend. Selbst wenn ich es den Leuten, die es geschafft haben, vorher noch gegönnt habe, dann verdreht sich das Bild irgendwann, dann kommt auch Neid auf. Ich glaube, umso länger du in der Szene bist, desto größer ist die Wut auf „die da oben“, auch wenn keiner weiß, was „die da oben“ eigentlich machen. Hauptsache dagegen. Du bist eh durchgerasselt und keiner hilft dir.

Gab es in dieser Zeit etwas, was dich getragen hat? Also etwas, dass dir Halt gab?

Meine Schwester. Sie hat mich immer unterstützt, auch wenn sie nicht mehr konnte. Egal in welcher Form. Finanziell, mit Obdach, mit Gesprächen. Aber auch die Freien Christen, die in Kassel arbeiten. Damals hab ich das zwar nicht so gesehen, da dachte ich, ich nutze die einfach nur aus. Aber die sind immer mal irgendwo aufgetaucht und haben Aktionen gemacht, die mir gefallen haben. Musik oder Kunst. Dadurch habe ich sie kennen gelernt.

Waren es diese Menschen die dir den Halt gegeben haben oder gab es auch in der Religion etwas, woraus du Kraft schöpfen konntest? Du sagtest ja, du warst religiös ziemlich verwirrt…

Vom heutigen Standpunkt aus würde ich sagen, es waren die Menschen. Wie sie gelebt haben und ohne mich unter Druck zu setzen. Sie haben sich nicht darüber aufgeregt, wenn einer mal das Brötchen weggeworfen hat. Sie sind eher smooth durchs Leben gegangen. Ich selbst war lange in der schwarzen Szene unterwegs. Das hat mir vorrübergehend Halt gegeben, aber es hat mich immer mehr aufgefressen – es war Satanismus, mehr will ich dazu nicht sagen.
Allerdings habe ich früher schon gebetet, was mit meinem christlichen Pflegevater zusammenhing. Der hatte mir beigebracht zu schreiben und in der Bibel zu lesen. Dadurch habe ich von Gott und Jesus erfahren und bin mit ihm eine Art Beziehung eingegangen, habe mit ihm geredet. Daran kann ich mich gut erinnern. Das war ein Gefühl, wirklich bei Gott anzukommen. Ich weiß heute, dass er mich nicht vergessen hat.

Wie waren deine Erfahrungen mit dem deutschen Staat zu der Zeit? Hast du ihn als hilfreich und unterstützend oder eher als belastend und verfolgend erlebt?

Eher als belastend und verfolgend. Ich hatte ziemlich Angst vor dem Staat und fand ihn wenig unterstützend. Ich hatte oft das Gefühl nach Hilfe zu suchen, habe aber niemanden gefunden, der mir zuhören wollte. Mittlerweile bin ich der Ansicht, dass es auch daran liegt, wie man in den Wald hineinruft. Jetzt mache ich durchaus positive Erfahrungen. Beispielsweise, dass mein Betreuer mir wirklich zur Seite steht. Das liegt daran, dass auch ich mich geändert habe. Die Leute merken, ich werde verlässlicher und ich kann ihnen etwas zurückgeben. Heute schaue ich mir beide Seiten an.

„Ich finde Spießer sein mittlerweile echt großartig! Mir geht es nur zu weit, wenn man sich um die Schnitthöhe der Nachbarswiese kümmert.“

Wonach sehnst du dich?

Ich wollte niemals dieses Spießerleben führen. Das fand ich zum Kotzen.
Heute denke ich darüber anders. Ich meine, was ist am Spießer sein bitteschön irgendwie schlimm? Ich finde Spießer sein mittlerweile echt großartig! Mir geht es nur zu weit, wenn man sich mehr um die Schnitthöhe der Nachbarswiese kümmert, als um seine eigenen Probleme. Was ich mittlerweile schätze, ist diese Achtsamkeit. Eben seine Aufgaben zu machen, für die Familie oder für die Gesellschaft. Heute finde ich den Gedanken ein Haus, Kinder und Arbeit zu haben, den Alltag bewältigen, gar nicht mehr so schlecht.

War es das, was dich letztendlich auch dazu bewog, die Therapie in Angriff zu nehmen und dein Leben zu ändern?

Ja, genau das. Einfach diese Sehnsucht nach dem normalen Leben, nach dem Ankommen. Den Alltag bewältigen, sich sortieren, zu wissen, was gerade wichtig ist. Auch die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Außerdem möchte ich endlich ein Vorbild sein für meinen zehnjährigen Sohn.

Du bist jetzt seit ungefähr drei Wochen in der Clearingstation „Neues Land“. Was war es für ein Gefühl, hier anzukommen? Inwiefern unterscheidet sich diese Welt von der Welt da draußen, also von deine

Großartig. Echt. Ich glaube, ich bin eine derjenigen, die in dem Haus angekommen ist und sofort die Wärme gespürt hat. Ich fand alles ganz toll. Natürlich gibt es Auseinandersetzungen und Spannungen. Der größte Unterschied zu meinem vorigen Leben ist, dass ich hier auf mich und auf andere achte. Durch das Reflektieren und durch das Leben in der Gemeinschaft. Dadurch lernt man sich gegenseitig zu akzeptieren, die liebenswerten Seiten im Anderen zu sehen. Draußen ist eher so eine „Hau-drauf“-Mentalität. Viele fühlen sich hier ziemlich eingesperrt, aber ich muss sagen, ich fühle mich hier viel freier. Ich spüre hier ganz deutlich, dass ich nur wirklich frei sein kann, wenn ich mich eingliedere. Wie soll man zum Beispiel etwas verändern, wenn man immer nur gegen Systeme schießt? Ich kann doch nur was verändern, wenn ich mich einbringe.

Was bedeutet es für dich anzukommen und was brauchst du persönlich dafür um das behaupten zu können? Was ist wichtig?

Ich brauche Respekt. Nähe – also nicht physisch. Eher geistig. Gespräche. Menschen, denen ich vertrauen kann. Halt durch Gebete. Balance. Zwischen mir und Gott.

Gibt es noch etwas, wo du hoffst einmal anzukommen?

Ich möchte wieder verlässlich werden. Für andere und für mich selbst. Wieder arbeitsfähig sein. Meine Zeit nutzen, um gute Dinge zu tun. Natürlich male ich mir manchmal bunte Bilder im Kopf aus, aber es geht erst mal um die kleinen Dinge. Eben verlässlich zu werden, um auch für meinen Sohn da sein zu können. Und wieder Vertrauen in den Beziehungen zu meiner Familie und Freunden aufzubauen. Ich finde, das ist ganz wichtig, um wirklich wieder im Leben ankommen zu können.


Text: Ilka Y, die Fragen stellte Felix Johne | Foto: Felix Johne und Ilka Y. | Dieser Beitrag ist zuerst im Cameo Magazin #3 Ankommen erschienen.