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"NSU Komplex auflösen" auf dem Clinch Festival in Hannover

Perspektivwechsel: Bei der zweieinhalb­stündigen Veranstaltung zur Mordserie des "National­sozialistischen Unter­grunds" ging es um die Betroffenen - nicht um die Täter.

von Paula Schwerdtfeger

Der Raum ist dunkel. Auf einem Podest stehen zwei Sofas und ein Sessel. Davor ein schmaler, niedriger Couchtisch. Auf den Plätzen – von schummrigen, warmen Licht beschienen – sitzen Aktivisten und Aktivistinnen, teilweise Betroffene rechtsextremen Terrors. „Zuhören als politischer Akt“, so heißt es im Programmheft des Clinch Festivals. Und fürwahr: Je länger ich den AktivistInnen bei der zweieinhalbstündigen Veranstaltung „NSU-Komplex auflösen. Lesung und Gespräch“ an diesem 3. November zuhöre, desto hartnäckiger setzt sich in meinem Kopf fest, dass jede/r zu einer Veränderung beitragen kann.

Ganz langsam, dabei aber entschieden, legen die AktivistInnen auf der Bühne ihre Argumente dar: Die These von einer isolierten Terrorzelle „NSU“, die das Münchner Gericht verfolgte, habe die eigentlich notwendige Aufarbeitung des rechtsterroristischen Netzwerkes in Deutschland verhindert. Lange vor den Ermittelnden hätten die Angehörigen und Betroffenen, ihre Communities, von einer rechtsradikalen Anschlagsserie gesprochen. Die Angehörigen der Opfer und Betroffene rechten Terrors hätten das Netzwerk dahinter recherchiert. Davon sei im Gerichtssaal aber nichts gehört worden. Das Wissen der migrantischen Communities wurde damals wie heute nicht ernst genommen. Die Ermittelnden hätten – statt den vorhandenen Hinweisen nachzugehen – einen von strukturellem und institutionellem Rassismus bestimmten Verdacht verfolgt. Statt im rechten Untergrund habe man die Täter in den Familien und Bekanntenkreisen, in fiktiven Drogenkriegen, angeblichen Ehrenmorden oder erfundenen Mafiaverwicklungen gesucht. Die Opfer seien zu Tätern stilisiert worden.

Ayşe Güleç, Candan Özer Yılmaz, Ibrahim Arslan, Cana Bilir-Meier und Cihad Hammy vor einem projizierten Gedicht von Semra Ertan

Zunächst spricht Ayşe Güleç. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin aus Kassel und hat das „Tribunal: NSU-Komplex auflösen“ im Kölner Schauspiel mitorganisiert. Bei dem „Tribunal“ wurde in einem Theaterraum vom 17. bis 21. Mai 2017 ein „zivilgesellschaftlicher Prozess“ aufgeführt. Güleç erinnert an die Opfer des NSU – des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Sie vermeidet es strikt, die Namen der Täter und Täterin auszusprechen. Stattdessen erzählt sie von den Ermordeten: Enver Şimşek, 38 Jahre, Blumenhändler, ermordet am 11. September 2000 an seinem Blumenstand in Nürnberg. Abdurrahim Özüdoğru, 49 Jahre, in der Änderungsschneiderei seiner Frau erschossen am 13. Juni 2001. Süleyman Taşköprü, 31 Jahre alt, Obst- und Gemüsehändler aus Hamburg, erschossen am 27. Juni 2001 im Laden seines Vaters. Habil Kılıç, ebenfalls Obst- und Gemüsehändler, 38 Jahre alt, wird am 29. August 2001 in seinem Laden in München erschossen. Mehmet Turgut, 25 Jahre, ermordet am 25. Februar 2004 in einem Dönerladen in Rostock. Die Nagelbombe in der Kölner Keupstraße, die am 9. Juni 2004 vor einem Friseursalon explodierte, verletzte 22 Menschen – eines von drei bekannten Sprengstoffattentaten des NSU. Ismail Yaşar, 50 Jahre alt, erschossen am 9. Juni 2005 in seinem Dönerimbiss in Nürnberg. Theodoros Boulgarides, 41 Jahre alt, wird am 15. Juni 2005 in seinem zwei Wochen vorher eröffneten Schlüsseldienst erschossen. Mehmet Kubaşık, 39 Jahre, ermordet in seinem Kiosk in Dortmund am 4. April 2006. Halit Yozgat, 21 Jahre, erschossen am 6. April 2006 in Kassel in seinem Internetcafé. Das letzte Opfer des NSU war Michèle Kiesewetter, 22 Jahre alt, eine Polizistin, erschossen am 25. April 2007 in Heilbronn.

Der Perspektivwechsel, den die Veranstaltung vornimmt, zeigt schnell Wirkung: Wenn in den Zeitungen und TV-Berichten stets die Rede ist von „dem Trio“, von der „nationalsozialistischen Terrorzelle“ oder „dem NSU“, so entwickele ich krasse Ablehnung, kann es nicht fassen, dass es so etwas gab, und möchte mich innerlich nicht weiter mit den Anschlägen beschäftigen. Ayşe Güleç aber schafft es, mir einen Zugang zu ermöglichen, mich ohne Verweigerungshaltung mit den Morden zu beschäftigen, mitzufühlen, solidarisch zu werden. Sie entwirft das Bild einer Stadt, indem sie die Geschäfte der Opfer zusammenführt: In dieser Stadt gibt es Obst, da gibt es Kleidung, deftiges Essen, Handwerk, Blumen. Es ist eine Stadt, in der sich ehemalige FabrikarbeiterInnen und ihre Kinder von der Industrie abgekapselt haben (weil sie mussten, weil sie konnten). Jetzt leisten sie selbstständig einen Beitrag im zivilen Zusammenleben. Dieser Stadt, so Güleç, galt der rechtsextreme Terror. Und somit waren wir alle, die in einer postmigrantischen Gesellschaft leben, sein Ziel.

Wie ist der deutsche Staat, wie sind die Medien mit den Morden umgegangen? Eine heftige Anklage formuliert der zweite Teil der Veranstaltung. Er lautet: „Der Anschlag nach dem Anschlag.“ In dieser Sequenz werden Berichte der Angehörigen der Ermordeten vorgelesen. Sie sind so ausgewählt, dass sich das Argument der AktivistInnen einprägt: Jede der Stimmen erläutert, wie die Polizei in teils unangenehmster Weise in den Leben der Angehörigen nach Tatverdächtigen suchte. Mit welchen irrwitzigen Anschuldigungen gearbeitet, wie ausspioniert wurde. Wie Ermittelnde bis in die Nachbardörfer von Familienangehörigen in der Türkei flogen und dort nach Anzeichen für Ehrenmorde suchten. Wie stundenlang und immer wieder verhört wurde, nur um dann den vorhandenen Hinweisen auf die eigentlichen Schuldigen nicht nachzugehen. Hinzu traten die Presse und das Fernsehen, die den aberwitzigen Anschuldigungen der Behörden folgten – so lange, bis die betroffenen Familien isoliert waren.

Anschließend führt Ibrahim Arslan Gespräche mit den PodiumsteilnehmerInnen. Arslan ist Aktivist und Überlebender eines Brandanschlags auf sein Wohnhaus 1992 in Mölln. Seinen Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen lässt er viel Raum, gibt lediglich Anstöße und lässt sie dann ihre eigene Erzählung entwickeln. Zu seiner Rechten sitzt Candan Özer-Yılmaz. Sie ist die Witwe von Attila, der bei dem Nagelbombenanschlag in der Keupstraße schwer verletzt worden war. Im vergangenen Jahr, so erzählt sie, ist Attila „an Depression gestorben“. Diese waren ausgelöst worden durch den Anschlag, aber auch durch die Ermittlungen und Medienberichte danach. Sie richtet eine Frage an das Publikum: Wer kennt die Namen der Täter, wer kennt die Namen der Opfer? Ihre bewegte Stimme, ihre Anklage, aber auch ihre Resignation lasten schwer in meiner Erinnerung. Die Betroffenheit, die sie auslöst, führt mich aber auch zu einer kritischen Frage: Wird ihr Leid, wird das Leid der Betroffenen hier auf die Bühne gestellt? Ist der Kunstraum der richtige Ort für ihre Anklagen?

In Räumen, in denen Betroffene sprechen und gehört werden, findet Empowerment statt – das ist die These der Veranstaltung. Nach den Erfahrungen des Gerichtssaals in München haben die Organisatoren und Organisatorinnen des „NSU Tribunals“ sich bewusst den Kunstraum gesucht. Im Kunstraum ließe sich, so Ayşe Güleç, ein nichtautoritärer Raum schaffen, in dem Betroffene und die Angehörigen der Opfer sprechen könnten. Dort fänden sie Anhörung, ohne von Autoritäten „gesilenced“ zu werden.

Dieses Vorhaben ist am 3. November im Kunstraum des Clinch Festivals geglückt. Die Perspektiven der Betroffenen wurden gehört, nachvollzogen und verstanden. Dadurch, dass die SprecherInnen selbstbestimmt auf die Bühne treten, gestalten sie ihr Narrativ selbst. Nun geht es darum, ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. Und darum, sich solidarisch zu zeigen. Ich fange damit an und lerne folgende Namen auswendig:

Enver Şimşek

Abdurrahim Özüdoğru

Süleyman Taşköprü

Habil Kılıç

Mehmet Turgut

Ismail Yaşar

Theodoros Boulgarides

Mehmet Kubaşık

Halit Yozgat

Michèle Kiesewetter

Attila Özer

 

„NSU-Tribunal“: Das nächste „NSU-Tribunal“ findet in Mannheim statt, vom 22. bis 24. November 2018. Mehr auf dem Youtube-Kanal von „NSU-Tribunal“.

Infobox: Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt vereint der VBRG in einem Überblick sowie auch belltower.news. In Hannover bietet Beratung u.a. die „Parteiliche Beratung Niedersachsen e.V.“ vom Landes-Demokratiezentrum Niedersachsen.


Text und Foto: Paula Schwerdtfeger