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Sieben Schnitte. Von Jarabe de Palo zur „queen of queers“

von Julia Rüegger

 

1:
Kürzlich hörte ich ein Lied der spanischen Rockband Jarabe de Palo wieder. Ich hatte es aus dem Spanischunterricht auf dem Gymnasium in guter Erinnerung, ich mochte die Melodie und die Rhythmen; außerdem handelte es von einer Protagonistin, die die ganze Nacht tanzt und ein Bier nach dem anderen trinkt. Zugleich wird diese nimmermüde Protagonistin von einem männlichen Sänger besungen, der im Liedtext staunt, wie dünn und schlank die tanzende Frau bleibt, egal wie viele Biere sie trinkt (so heißt das Lied auch: La Flaca - Die Dünne) und der sich nichts sehnlicher als einen Kuss mit ihr wünscht. ¹

Vielleicht ist dieses Lied kein schlechtes Beispiel, um die Ambivalenz oder auch die dünne Grenze zu bezeichnen, die zwischen Selbstbestimmtheit und Objektivierung liegen kann. Darüber haben wir im Unterricht nicht gesprochen: vielleicht war unser Spanisch zu schlecht, um über gegenderte Körperwahrnehmung und ihren Ausdruck in der Populärkultur zu sprechen, vermutlich stand dieses Thema einfach nicht zuoberst auf dem Lehrplan (oder gar nicht). Dabei wäre die Frage durchaus interessiert, wer in diesem Lied, das mit einer tiefen Stimme die Schlankheit einer unerreichbaren Frau besingt, handelt und wer gehandelt wird, wer aktiv ist und wer passiv - der Sänger, der die Frau anschaut und über diesem Anblick zu dichten beginnt, oder sie, die namenlose, biertrinkende Tänzerin? Gilt es hier zwischen Haupt- und Nebencharakter zu unterscheiden? Besitzt eine der beiden Figuren genuine Subjektivität, während die andere Figur Marionettenspieler*In oder untertäniges Objekt eines äusseren Begehrens ist? Und wenn ja, wäre das überhaupt so schlimm? Vielleicht geht es nicht darum, diese Fragen zu beantworten und schon gar nicht darum, dass Aktivität und Passivität, Subjektivität und Objektivität in jeder künstlerischen Darstellung 50-50 auf Mann* und Frau* aufgeteilt werden müssen, als gäbe es davon nicht genug für alle (als gäbe es nicht an einem selbst einen Überschuss von beidem). Vielleicht ging es den Sängern von Jarabe de Palo beim Schreiben von La Flaca ähnlich wie Eugen Gomringer, als er zum Schreiben des Gedichts avenidas ansetzte: Beide bedienten sich künstlerischer Mittel, um ihre Wahrnehmung, ihre sexuelle Orientierung, ihr Begehren oder schlicht und einfach ein gängiges und kulturell hochgradig determiniertes Sujet zum Ausdruck zu bringen.

Die Lehre, für die das genannte Lied vielleicht nur ein weiteres unter unzähligen Exempeln darstellt, und die ansonsten in unserer kulturellen Sozialisation wurzelt, könnte sich stattdessen wie folgt darstellen: Männern* darf man das Biertrinken ansehen (und anhören etc.), Frauen* sollen ruhig auch viel trinken, um interessant und in bestimmten Masse eigenwillig, vielleicht auch gierig und hungrig zu wirken, sie sollen die Kalorien dann aber auch wieder wegstecken, sprich: restlos verbrennen.

Auf diese Art der asymmetrischen Behandlung machte mich meine Französisch-Lehrerin vor fünfzehn Jahren in einer Klassenstunde aufmerksam. Der Anlass, der meine Lehrerin dazu brachte, vor einer Gruppe zwölfjähriger über Geschlechter-Stereotypen zu sprechen, war der, dass die Kinder einer Freundin von ihrer Mutter forderten, sich endlich wie „normale Frauen“ die Achselhaare wegzurasieren - und ihre Freundin dies den Kindern zuliebe getan hatte, nur, um jetzt andauernd nachjustieren zu müssen, sprich: ständig nachzuschauen, ob es schon wieder an der Zeit war, ein paar Haare auszuzupfen, damit es ihren Töchtern nicht unangenehm war, Freund*Innen heimzubringen.

Womit wir wieder beim Anfang wären: Frauen*, die gerne und/oder viel Bier (Limonade, Schokomilch, Anisschnaps) trinken, sehen im besten Fall immer noch begehrenswert aus (und bieten sich dem männlichen Blick dar, auch wenn sie die Biere nur trinken, weil sie durstig sind, Lust haben, sich betrinken wollen oder oder). Männer*, die auch gerne und/oder viel Bier (Limonade, Wacholderschnaps) trinken, beobachten und besingen die Frauen, mit denen sie gern intim werden würden. La Flaca wäre dann nicht nur eine fiktive Frau in einem spanischen Lied aus dem Jahr 1997, sondern das kulturelle Role Model der trinkenden Frau, deren letzter Daseinszweck es immer noch wäre, von einem Mann* gesehen, gewollt und zur Sprache gebracht zu werden.²

¹ Jarabe de Palo: La Flaca, Spanien 1996, https://www.youtube.com/watch?v=r2g0pM3PMNQ

² Ähnlich einseitig ist die Kehrseite dieses Deutungsschemas. So zeigt Leslie Jamison in ihrem Essay Die Klarheit auf, dass (schreibende, künstlerisch tätige) Frauen, deren Alkoholkonsum zur Sucht geworden ist, als bemitleidenswerte Opfer angesehen werden, die an den Ansprüchen der Gesellschaft scheitern, während ihre männlichen Alkoholiker-Kollegen als Genies angehen werden, bei denen das Trinken als notwendiger Preis für ihren schöpferischen Geist gelesen wird. Vgl.: Leslie Jamison: Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung, Boston 2018, dt. Übersetzung: Berlin 2018 

 

2:
Am Anfang der King Kong Theorie schreibt Virginie Despentes:

„Ich schreibe aus dem Land der Hässlichen und für die Hässlichen, die Alten, die Mannweiber, die Frigiden, die schlecht Gefickten, die Nichtfickbaren, die Hysterischen, die Durchgeknallten, für alle vom großen Markt der tollen Frauen Ausgeschlossenen.3 Und ich sage gleich, damit das klar ist: Ich entschuldige mich für nichts und ich werde nicht jammern. Ich würde meinen Platz gegen keinen anderen tauschen, denn Virginie Despentes zu sein finde ich viel spannender als alles andere. [...] Natürlich würde ich nicht schreiben, was ich schreibe, wenn ich schön wäre, so schön, dass alle Männer, die ich treffe, ihr Verhalten ändern. Ich spreche als Proletin der Weiblichkeit, wie ich es gestern getan habe und heute wieder tue. Als ich Sozialhilfe bekam, habe ich mich kein bisschen geschämt, ausgeschlossen zu sein, ich war nur wütend. Genauso als Frau: Ich schäme mich nicht, keine supertolle Frau zu sein, aber es macht mich rasend, wenn man mir ständig zu verstehen gibt, dass ich als Frau, die die Männer kaum interessiert, gar nicht da sein sollte. Wir waren immer da. Auch wenn wir nicht vorkamen in den Romanen von Männern, sie sich nur Frauen ausmalen, mit denen sie gern schlafen würden. Wir waren immer da, aber wir haben nie den Mund aufgemacht. Sogar heute, wo viele Romane von Frauen geschrieben werden, triffst du darin nur selten Frauenfiguren, die unscheinbar oder durchschnittlich aussehen und nicht imstande sind, die Männer zu lieben oder sich von ihnen lieben zu lassen. Im Gegenteil, die Heldinnen von heute lieben die Männer, lernen ständig welche kennen, schlafen nach zwei Kapiteln mit ihnen, haben nach vier Zeilen einen Orgasmus; und sie alle lieben Sex. Die Loserin in Sachen Weiblichkeit ist mir nicht nur sympathisch, sie ist mir unverzichtbar. Genauso wie der gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Loser. Mir sind die lieber, die es nicht schaffen, aus dem einfachen Grund, dass ich es selbst nicht besonders gut schaffe. Und weil alles in allem Humor und Einfallsreichtum eher auf unserer Seite zu finden sind. Wer nicht ist, wie man sein muss, um sich aufzuspielen, ist oft kreativer. Als Frau bin ich eher King Kong als Kate Moss.“4

³ Da dies ein Originalzitat der französischen Autorin Despentes ist, stehen in diesem Abschnitt keine Gendersternchen. Dass „hässlich“, „supertoll“, „gefickt“, „nichtfickbar“ und andere O-Töne aus diesem Zitat keine objektiven, sondern normierte und dadurch hochpolitische Be- und Zuschreibungen sind, um deren Hinterfragung, Problematisierung oder subversive Aneignung es geht, ist meine Leseweise des Ausschnitts, ich glaube aber, dass sie mit Despentes` Ansatz in der King Kong Theorie kompatibel ist.
⁴ Virginie Despentes: King Kong Theorie, Paris 2006, dt. Übersetzung: Köln 2018

3:

Sich als Frau* die Straße, den Tresen, das Podium, die DB-Lounge, den Skaterpark, das Mikrofon, den Logenplatz nehmen, um begierige, lustvolle Blicke auszuwerfen und dabei hemmungslos herumzuflirten, aktiv, passiv, hellwach und/oder somnambul. Wenigstens dazu fähig sein, um sich dann, je nach Situation und Gegenüber, aktiv; aber auch intuitiv und ohne zaghaftes Kopfzerbrechen dafür oder dagegen zu entscheiden, oder für den eleganten Mittelweg (und dabei wohl möglichst nicht zudringlich werden). Den female gaze5 zu erproben, also, und davon zu schreiben, ohne den Spieß der Binarität damit nur um 180 Grad zu drehen.

Ebenso willentlich, spontan, impulsiv, sorglos oder fest entschlossen mit breiten Beinen in der Tram und im Interregio sitzen, die Knie nach außen gedreht halten, auch dann, wenn der Mann rechts oder links von mir sein Anzugshosenbein keinen Millimeter verrückt, sei es aus Sturheit oder Ignoranz, sei es aufgrund von (un-)bewussten Machtspielen. Dagegenhalten, mit leichtem Druck, und wenn es sein muss meine Jeans an die Waden meines Nachbarn drücken, nur aufhören, mich automatisch zurückzuziehen, aufhören so zu tun, als hätte ich kein gleiches Recht auf Beinfreiheit. Als wäre es ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein Mann(*) 1,3 oder 1,7 oder 2x so viel Raum einnimmt wie eine nicht männlich-(gelesen)e Person.6

⁵ Maggie Nelson: Bluets, Seattle 2009, dt. Übersetzung: Berlin 2018

⁶ Erinnerung an Manuela Carmena, die ehemalige Bürgermeisterin von Madrid, die öffentlich einforderte, männliche* Fahrgäste mögen im öffentlichen Verkehr auf die Demonstration aggressiv-maskuliner Sitzkultur verzichten (& mein Wunsch, amtierende Politiker*Innen würden öfter solche Forderungen stellen und damit zuallererst gewisse Machtverhältnisse aussprechen, die in der öffentlichen Debatte immer noch zu häufig ausgeblendet werden).


4:

Wer oder was ist die „queen of queers“7? Wodurch zeichnet sie* sich aus? Durch Schläue, Offenheit, Humor? Durch hervortretende Venen oder bunte Augenbrauen? Durch Schlagfertigkeit, Verwandlungsfähigkeit, Weinerlichkeit? Eine tiefe Stimme oder strapaziertes Haar? Durch Schrillheit oder eine streitlustige Haltung? Durch Training, Widerstand, Vergesslichkeit?

⁷ Hélène Cixious: Le Rire de la Méduse. Et Autre Ironies, Paris 2010


5:
Auch gegen die Ansicht eines nahen Verwandten, der „weibliche“ Körper sei eben von Natur aus anreizender als der „männliche“ will ich anschreiben mit einer King-Kong-haften Weiblichkeit und ihm den Vorgarten mit den Skulpturen antiker Jünglinge vollstellen.


6:
We're all born naked and the rest is drag.8 Aber die Verkleidung, die wir tragen, erzählt Geschichten. Sie spricht Macht zu oder ab, sie exponiert oder verhüllt, manchmal beides gleichzeitig. Wie also schreibe ich den Flussufern, den U- Bahnen, den Rap Battles, den Berggipfeln und den Youtube-Channels meinen dezidiert weiblichen Blick ein, ohne dadurch das herrschende binäre System zu stärken?

Wie schreibe ich eine Prosa widerborstiger (klatschnasser, staubtrockener) Weiblichkeit, die die Lüsternheit von Frauen* verhandelt, erotische Neugierde, politisches Verlangen, eine Potenz, die nicht nur entlang der Achse männlich/weiblich verläuft? Wie kann ich von den Kostümen schreiben, die mit meiner Haut verwachsen sind, von meinem Begehren, das normierter ist als ich es will?

Wie schreibe ich als Proletin der Weiblichkeit, als supertolle Frau*, die verführt und sofort einen Orgasmus kriegt und als die dazwischen: weder Loserin noch supertoll, weder nichtfickbar noch richtig gefickt, weder Mutter noch Junggesellin, weder ausnahmslos zärtlich noch immer nur rau?

⁸ RuPaul


7:
„In touch with the erotic I become less willing to accept powerlessness [...]“9 Das schrieb Audre Lorde, eine Intellektuelle, Aktivistin und Black lesbian feminist, im Jahr 1978.


42 Jahre später wünsche ich mir, dass wir - als weiße, Schwarze und BIPoCs, als alte Anarchist*innen, junge Spaßverderberinnen und mittelalte Kompliz*Innen - weiter vom Gebrauch der Erotik schreiben; vom Gebrauch der Liebe; der Lüste und der Wut.

⁹ Audre Lord: „Uses of the Erotic“, zuerst erschienen in: Sister Outsider, Berkeley 1984

Text: Julia Rüegger
julia rüegger (*1994 in basel) studierte "kreatives schreiben und kulturjournalismus" an den literaturinstituten in hildesheim & biel, danach im master "philosophie und künste interkulturell" in hildesheim & madrid. sie veröffentlichte in anthologien & zeitschriften (u.a. landpartie, poet*in, das narr, denkbilder) und trat bei lesungen & festivals auf (z.b. bei gegenstrophen in hannover, beim prosanova 2017 und bei leipzig liest). j.r. schreibt lyrik, prosa & essays, arbeitet zurzeit in einem basler kulturbetrieb und ist teil von waende ruine flur, einem (queer-) feministischen denklabor für diverse literatur.

Illustration: Michelle Bray  ist Teil der Upgration-Redaktion und leidenschaftlich für Diversity am Start. Mehr dazu findest du auf www.bray-n-storm.com
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