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Utopie eines deutschen Neubeginns

von Fabian Neidhardt

Hakans Salon befindet sich auf der Straßenseite, die in der Sonne liegt. Die Hitze kurz nach der Mittagszeit ist so drückend, dass die schmale Straße leer ist. Hakan hat sich an die hintere Wand seines Ladens gelehnt, aber das hilft nicht. Die Sonnenstrahlen scheinen bis zur Mitte des Raums und die Hitze strahlt bis zu ihm. Selbst die Fische bleiben im schattigen Teil des Aquariums. Das kleine Radio wiederholt das Sommerlied des Jahres zum dritten Mal an diesem Tag, und auf der anderen Straßenseite dringt das stetige Schlagen des Teigs aus Alex‘ Backstube. Alex ist Hitze gewohnt. Der Geruch seiner Fladen erfüllt die Luft.

Die vier Stühle, die vor der Backstube an der Straßenecke um den kleinen wackeligen Tisch stehen, sind leer. Kassandra wird erst heute Abend wieder mit ihrem Spielbrett dort sein, wenn es kühler ist. Jeden Abend sitzt sie dort. Barfuß wird sie auf den zerbrochenen Steinplatten des Gehweges heranschlurfen, unter dem Arm das zusammengefaltete Spielbrett aus Holz, das auf der Rückseite mit silbernem Klebeband repariert ist, und in der Hand den kleinen Sack aus abgewetztem dunkelgrünem Stoff, in dem sich die Figuren befinden. Sie ist immer barfuß. Die Platten geben die Wärme nur langsam wieder ab und wenn man nackte Füße hat, schwitzen sie nicht, aber bleiben die halbe Nacht warm.
Frau Wieland schiebt ihren Rollator über den Gehweg auf der anderen Seite. Manchmal muss sie ein Rad anheben, um über einen Riss zu kommen. Sie bewegt sich langsam, bleibt bei jedem Geschäft stehen und winkt durch die offenen Türen oder klopft an das Fenster. Bei Lisas Massagestudio, bei Pawels Obst- und Gemüsestand, bei Maries Second Hand Boutique und bei Christians Näherei. Nur an Torbens Tattooladen geht sie vorbei, so weit am Gehwegrand, dass der Rollator droht, auf die Straße zu kippen. Torben und Alex hatten mal was miteinander und seit Torben Schluss gemacht hat, grüßt ihn Frau Wieland nicht mehr.

Plötzlich öffnet sich eine der alten Türen des Hauses auf der anderen Straßenseite, bei dem Hakan immer dachte, dass da sowieso niemand mehr wohnt. Eine schmale Tür, die ins Parterre führt, mit Plakaten überklebt, und Hakan ist sich sicher, dass niemand in der Straße wusste, dass man sie noch öffnen kann. Man war sich einig, dass dieser Teil des Hauses unbewohnt ist. Die Fenster sind verdreckt, der Putz bröckelt ab und jetzt ist dieser Typ im Türrahmen. So groß, dass er gebückt steht, und so hager, dass die Konturen seiner Schlüsselbeine und der Rippen sichtbar sind. Er trägt nur eine zu groß geratene, verwaschene Boxershorts, die ihm an den Hüftknochen hängt und die ohnehin schon schmalen Oberschenkel noch dürrer erscheinen lässt, und einen einzelnen gelben Schuh, der Schnürsenkel gerissen und das Leder aufgerissen. Die blonden Haare fallen bis auf die nackten Schultern. Sein Bart ist so wild wie seine Haare, und er erinnert Hakan an den Sänger dieser Band, deren Name ihm nicht einfallen will. Hakan läuft bei diesem Wetter auch oft so rum, aber niemals vor der Tür.
Der Mann betrachtet die Straße und sein Blick bleibt für einen Moment bei Frau Wieland. Aber sie hat ihn nicht bemerkt. Sie manövriert den Rollator um die Stühle an der Ecke und redet leise vor sich hin. Hakan versteht nicht, was sie sagt. Keiner versteht, was sie sagt, aber alle wissen, dass ihr Reden besser ist als ihr Schweigen. Der Mann tritt aus dem Eingang und schließt die Tür hinter sich, steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht ihn zweimal um. Mit einigen wenigen Schritten ist er am Straßenablauf, kniet sich hin und lässt den Schlüssel hineinfallen.
Hakan runzelt die Stirn, verschränkt die Arme. Er muss die Augen zusammenkneifen, um etwas zu sehen, als er aus dem Laden tritt. Der Mann erhebt sich und scheint nicht zu wissen, was er nun tun soll. Er steht mit dem Rücken zu Hakan, sieht wieder die Straße entlang und mittlerweile ist selbst Frau Wieland verschwunden. Der Mann schüttelt den Kopf, hebt die Arme weit auseinander gestreckt nach oben und lässt sie kraftlos gegen die Schenkel klatschen. Er ist sehnig und dürr, Hakan kann die kleinen Muskeln an seinem Rücken arbeiten sehen. Und er weiß, dass es einfacher ist, Hilfe anzubieten, als sie einzufordern. Jeder in dieser Straße weiß das.

„Hej, hast du ein Problem?“
Der Mann macht einen erschrockenen Schritt von Hakan weg. Er dreht sich um, Schultern und Arme nach oben gerissen, die Hände zu Fäusten angedeutet und den Kopf leicht geduckt. Dann betrachtet er Hakan, registriert die offene Ladentür hinter ihm. Sieht sich noch mal auf der Straße um, lässt die Arme sinken und nickt.
„Ich brauche ein neues Leben. Eine neue Identität. Ab jetzt bin ich Nils.“
Er spricht leise, die Stimme knarrt und bricht, als er seinen neuen Namen sagt, aber er sieht Haken fest in die Augen. Strahlende blaue Augen und aus der Nähe sieht der Mann, der jetzt Nils heißt, verlebter aus, gleichzeitig aber jünger, als Hakan im ersten Moment gedacht hätte. Eher 33 als 45. Unter den Augen kleine Furchen, die unter dem Bart verschwinden. Der Bart fast komplett ausgeblichen. Hakan weiß, wie es ist, neu anzufangen. Er löst seine verschränkten Arme und nickt in Richtung seines Salons.
„Wie wär‘s erst mal mit einer neuen Frisur?“

Der knisternde Stoff des Umhangs ist kühl und Hakan merkt, wie Nils bei der ersten Berührung leicht zusammenzuckt. Er sitzt aufrecht im Stuhl und betrachtet sein Gesicht im Spiegel. Bewegt seinen Kopf langsam hin und her und lässt sich nicht aus dem Blick. Hakan legt seine Schürze an und prüft, ob Scheren, Kämme und Messer an ihrem Platz sind.
„Vertraust du mir?“
Nils sieht Hakan über die Spiegelung an und nickt. Hakan lächelt und zieht seine Lieblingsschere aus der Tasche, fasst die Haare zu einem Zopf zusammen und legt die Schere an.
„Wie war dein Name früher?“
„Nils, habe ich doch gesagt. Nach meinem Großvater.“
Hakan grinst und drückt die Schere durch den Zopf, Nils atmet aus und lässt sich in den Stuhl sinken. Die nächste halbe Stunde arbeitet Hakan, erst mit der Schere, dann mit der Maschine. Nils’ Haare sind dick und widerspenstig, eine Pferdemähne. Am Ende färbt er sie dunkelbraun, fast schwarz. Sie sind noch feucht, als er den Stuhl an der Lehne packt und Nils zu sich dreht. Er geht ein paar Schritte nach hinten und mustert ihn, dann dreht er ihn zurück und kümmert sich um den Bart. Zuerst mit der Maschine, dann mit dem Messer.

Nils hat den Kopf nach hinten gelegt und die Augen geschlossen, die Arme locker auf den Lehnen liegen. Hakan bemerkt die hellen Narben an der Unterseite des rechten Arms, ein Dutzend kleiner Schnitte, nah aneinander, sich manchmal überlappend. Es klopft an der Scheibe, Torben steht in der Tür. Torben kommt oft vorbei, wenn es in der Straße leer ist. Nils öffnet die Augen und Hakan spürt die Spannung, die sich in Nils Körper aufbaut. Hakan klappt das Messer ein und legt seine Hand auf Nils‘ Schulter. Er umarmt Torben kurz, bei dieser Hitze nur eine Andeutung, kein Körperkontakt, und widmet sich wieder Nils. Mit dem Messer zeigt er auf den Arm.
„Kannst du die kaschieren?“

Als Nils danach wieder in den Laden kommt, zieren schwarze Ringe und der Scherenschnitt eines Waldes seinen Arm, eingepackt in Folie. Hakan will dafür bezahlen, aber Torben lehnt ab. Hakan war klar, dass das passieren wird, aber es geht um die Geste. Darum, nichts selbstverständlich zu nehmen. Sie wissen beide, dass Hakan dafür irgendwann jemandem die Haare schneiden wird. Hakan ist in der Zwischenzeit bei Marie gewesen, sie steht mit einer ganzen Tüte voller Klamotten im schattigen Teil des Ladens. Sie drückt Nils ein paar Sachen in die Hand, die er schweigend anzieht. Eine helle Jeans, die knapp über seinen Knöcheln endet, dazu ein weißes Hemd und dunkle Lederschuhe. Marie betrachtet ihn zufrieden.
„Passt zu deiner Frisur, ich mag übrigens die Haarfarbe.“
Nils fährt sich über den Kopf.
„Danke. Die kommen nach meiner Mutter. Wahrscheinlich sind sie auch genauso lockig, wenn sie lang sind. Aber ich habe sie noch nie wachsen lassen.“
Er blickt an sich herunter und Marie sieht Hakan fragend an, aber der zuckt mit den Schultern. Manchmal braucht es Jahre, bis er verstanden hat, warum Menschen sich verhalten, wie sie es tun. Er versucht gar nicht erst, Nils schon am ersten Tag zu verstehen.

Mittlerweile weiß die ganze Straße von Nils. Die Straße weiß immer schnell, was vor sich geht. Torben hat Alex Bescheid gesagt, nachdem er erfahren hat, dass Nils Konditor ist. Alex betrachtet Nils.
„Kannst du früh aufstehen?“
„Früh aufstehen, viel arbeiten.“
„Wenn du willst, kannst du mir in der Backstube helfen. Morgen um 5 Uhr geht’s los.“
Nils schließt den obersten Knopf des Hemdes. Marie tritt auf ihn zu und öffnet ihn wieder.
„Ist nur ein Angebot. Du kannst auch Nein sagen.“
Nils rollt sich langsam und sauber die Hemdsärmel auf, bis an den Ellenbogen, erst auf der rechten, dann auf der linken Seite. Dann macht er einen Schritt auf Alex zu. Er hält ihm die Hand hin. Alex weicht für einen winzigen Moment zurück, dann sieht er die Hand, grinst und schlägt ein. Und alle müssen lachen. Marie zupft einen Flusen vom Hemd.
„Wo schläfst Du eigentlich?“
Nils Blick schweift ab, das Grinsen verebbt und alle können sich denken, was sein Schweigen bestätigt. Alex hebt eine Braue, dann zieht er sein Telefon aus der Tasche.
„Mama, kannst du kurz zu Hakan kommen? Bis gleich.“
Er legt auf und sieht Nils an.
„Sie hat ein leeres Zimmer. Mein altes. Das kriegen wir hin. Aber du solltest den Ärmel runterziehen. Und du solltest verschwinden.“
Torben nickt und eilt auf die andere Straßenseite. Alex bedeckt das Tattoo.

Am Abend beobachtet Hakan, wie Nils mit Kassandra spielt. Frau Wieland sitzt daneben auf ihrem Rollator und zieht an der Wasserpfeife, die Alex ihr jeden Abend vorbereitet. Manchmal sagt sie etwas, das keiner versteht. Lisa und Christian haben die Gitarre und Trommeln geholt und sich neben dem Tisch auf den Boden gesetzt. Sie spielen und singen, Torben dreht Marie im Kreis. Alex unterhält sich mit ein paar Leuten, die Hakan nicht kennt. Es sind oft ein paar Leute dabei, die nicht in der Straße wohnen. Kassandra ist die Königin des Spiels und keiner hat eine Chance gegen sie. Ihre alten Finger nesteln an einer übrig gebliebenen Figur, solange ihr Gegner überlegt. Sobald sie dran ist, leckt sie sich über die obere Lippe und hält den Kopf still, nur die kleinen Augen springen über das Spielfeld. Sie nimmt die Figur in die Rechte und mit der linken macht sie ihren Zug. Dann zeigt sie kurz ihre Zähne und hat die Spielfigur wieder in beiden Händen. Alle spielen mit ihr, weil es ihr so viel Freude bereitet. Nils ist ehrgeizig. Er spielt offensiv und direkt, zögert selten und spielt zu Ende, auch wenn schon lange klar ist, dass er wieder eine Partie verlieren wird. Er hat noch nie gewonnen, aber scheint es solange probieren zu wollen, bis er es schafft. Nach jeder Niederlage hält Kassandra ihm die Hand hin, aber Nils schüttelt sie nicht. Er greift sanft nach den Fingern, dreht sie in die Horizontale und küsst sie, ohne Kassandras Blick zu verlieren. Und die alte Frau lacht, wie sie sie schon lange nicht mehr haben lachen hören. Dann stellt Nils die Figuren wieder auf und sie beginnen die nächste Partie.

„Willst du?“
Hakan dreht den Kopf und Pawel steht neben ihm. Er hält ihm einen Apfel hin und Hakan greift zu. Kauend beobachten sie die Anderen, dann nickt Pawel in Richtung des kleinen Tischs.
„Woher kennst du ihn?“
Hakan hebt die Augenbrauen und zieht die Luft durch die Zähne.
„Von früher. Lange Geschichte. Habe ihn ewig nicht gesehen.“
„Gut, dass er wieder da ist.“
„Sehr gut, dass er da ist.“


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