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WAHLheimat Europa?

von Hannah Strauss

Wie so oft in ihrer Geschichte scheint die Europäische Union (EU) vor einer Weggablung zu stehen. Die Europawahlen stehen an. Mehr denn je drängen sich die Fragen auf: Wohin wird der Weg führen? Steht am Ende ein Ende? Mehr vom Gleichen? Oder etwas ganz anderes?

Die anstehenden Europawahlen sind ein wichtiger Wegweiser in die Zukunft. Sie finden in den EU-Mitgliedsstaaten an unterschiedlichen Tagen (vom 23. bis zum 26. Mai 2019) statt. Für uns in Deutschland ist der 26. Mai Wahltag. An diesem Tag darf jede*r Wahlberechtigte in Deutschland seine und ihre Stimme abgeben. Dass heißt, wir haben die Chance mitzuentscheiden, wer als Europaabgeordnete unsere Meinung und unsere Interessen im Parlament der Europäischen Union, dem Europäischen Parlament, vertreten soll.

Angesichts der aktuellen Situation Europas und der Tatsache, dass sich die EU nach wie vor in einem Entstehungsprozess befindet, haben die Wahlberechtigten mehr als in anderen Wahlen die Entscheidung zu treffen: Was bedeutet Europa für mich? Ist die EU aktuell die Form, in der ich in Europa leben möchte? In was für einem Europa möchte ich leben? Und: Ist Deutschland meine primäre Heimat oder Europa? Bin ich deutsch in Europa, wie ich niedersächsisch in Deutschland bin? Oder sehe ich die EU nur als bürokratischen Apparat, der uns einige Annehmlichkeiten wie Reisefreiheit aber auch viel Ärger beschert? Oder ist es etwas ganz anderes? Eine ideale Gemeinschaft transnationaler Bewegungen?Gibt es gar die WAHLheimat Europa, also den oder die europäische Bürger*in und könnte ich so jemand sein?

»Gibt es die WAHLheimat Europa, also den oder die europäische Bürger*in und könnte ich so jemand sein? «

All diese Fragen beziehen sich auf die eigene, individuelle Identität. Sie können im Rahmen dieses Textes nicht beantwortet werden. Jedoch haben die Antworten großen Einfluss auf die Frage: Wen werde ich wählen?

Wir wählen nicht nur für oder gegen die Demokratie oder für ein bestimmtes Wahlprogramm, sondern wir wählen gewissermaßen auch nationale oder transnationale Interessen. Dadurch beeinflusst jeder von uns, in welche Richtung sich die EU weiterentwickelt. Welchen Weg sie  an der Gablung einschlagen wird. Dabei sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass es sich bei der EU um eines der größten Friedensprojekte der Neuzeit handelt. Ein Projekt, das durch politische Unachtsamkeit nachhaltig beschädigt werden kann. Etliche Menschen versuchen eine solche Entwicklung durch viel Engagement zu verhindern. Ihr Ziel ist es, die Geschichte der EU gemeinschaftlich und auf transnationaler Ebene weiterzuführen.

Beispielhaft dafür stehen DiEM25 und VOLT. Die zwei transnationalen Organisationen wollen im Wahljahr 2019 das erste Mal bei den Parlamentswahlen antreten. Die erstgenannte, DiEM25, wurde im Februar 2016 ins Leben gerufen. Mitglieder der Bewegung sind prominente Gesichter wie zum Beispiel der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, auch einer der Gründer von DiEM25, oder der amerikanische Sprachwissenschaftler Noam Chomsky. Der Name DiEM25, Democracy in Europe Movement 2025, ist Programm. Laut dem Manifest der linksgerichteten Partei ist das Ziel, bis 2025 „Europa zu demokratisieren“.

Die zweite transnationale Organisation trägt den Namen VOLT. Man will sich damit tatsächlich auf Strom beziehen und Energie für Europa symbolisieren. VOLT wurde im Jahr 2017 im Zuge des Brexit von drei Studierenden gegründet. Die liberal-demokratische Bewegung möchte vor allem junge Menschen für Europa begeistern. Das zentrale Ziel ist es, die aktuellen politischen Herausforderungen auf europäischer Ebene gemeinsam anzugehen.

Vergleichbare Bewegungen wie DiEM25 oder VOLT gab es bereits in der frühen Geschichte der EU wie zum Beispiel Newropeans. Jedoch scheinen die neuen Parteien mehr mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit generieren zu können als ihre „Vorgänger“. Was aber unterscheidet die Bestrebungen von „klassischen“ Europaparteien wie zum Beispiel der zwei größten Parteien, die Sozialdemokratische Partei Europa (SPE) und die Europäische Volkspartei (EVP)?

Die Differenz liegt vor allem im Ansatz. Die meisten Parteien auf europäischer Ebene gründen sich „von unten“. Das heißt die Parteien existieren bereits auf nationaler Ebene oder Mitgliedsstaatsebene und haben sich auf europäischer Ebene mit Schwesterparteien zusammengeschlossen. Oft geht ihre Perspektive von der nationalen Ebene aus. Entsprechend treten die Parteien meistens in ihren „Herkunftsländern“ mit spezifischen Wahlprogrammen an (es gibt natürlich Ausnahmen). Auf den ersten Blick macht dies Sinn, denn die nationalen Probleme unterscheiden sich von Mitgliedsland zu Mitgliedsland. Wenn man jedoch den Vergleich mit den Bundestagswahlen zieht und sich vorstellt, dass in jedem Bundesland die Parteien mit unterschiedlichen Wahlprogrammen antreten, ist es doch etwas skurril. Nichtsdestotrotz: Der Ansatz ist per se nicht schlecht. Die Parteien können auf EU-Ebene zu „echten, europäischen Parteien“ zusammenwachsen. Immer vorausgesetzt natürlich, das sollte das Ziel sein.

Für Bewegungen wie VOLT und DiEM25 stellt sich diese Frage nicht, denn ihre Entstehungsgeschichte beginnt sozusagen „von oben“, das heißt auf europäischer Ebene. Verschiedene Menschen aus den verschiedenen Mitgliedstaaten der EU tun sich zusammen, um eine gemeinsame Partei zu gründen. Hier liegt der zentrale Unterschied zu den „klassischen“ Europaparteien: Ziel dieser Parteien ist von Anfang an, europäische Politik zu machen.

Doch trotz mancher Rhetorik unterscheiden sich die transnationalen Organisationen formell nicht von den anderen europäische Parteien, wenn sie zu den Parlamentswahlen antreten: Denn auch sie unterliegen den europäischen Wahlrichtlinien. Diese sehen nicht vor, dass Parteien mit transnationalen Listen zur Wahl antreten. Diese scheinbar „utopische“ Vorstellung wurde erst jüngst vom Europäischen Parlament abgelehnt. Die Idee von Listen über die europäischen Ländergrenzen hinaus wurde dennoch nicht ad acta gelegt: Allem voran der französische Staatspräsident Emmanuel Macron macht sich weiterhin dafür stark. Für das Wahljahr 2019 sind seine Bemühungen zu spät. Es wird keine Änderungen im Wahlrecht geben. Folglich müssen auch VOLT und DiEM25 in den einzelnen Mitgliedsstaaten entweder eigene Parteien gründen oder Wahlbündnisse mit anderen Parteien schließen.

Ich stelle mir die Frage: Können Bewegungen wie DiEM25 oder VOLT positive Impulse für die Weiterentwicklung der EU setzen? Macht es Sinn, die neuen Bewegungen statt großer Parteien zu wählen? Oder „verschenke“ ich damit meine Stimme, da die Parteien sowieso keinen Einfluss haben bzw. mit anderen Parteien kooperieren werden müssen? Außerdem: Ist die transnationale Liste bei Wahlen auf Dauer eine Chance, um den Vereinigungsprozess zu vertiefen? Und ist die jüngste Ablehnung des Parlaments an transnationale Listen ein Appell an uns? Ist das europäische Parlament schon zu sehr mit Politiker*innen besetzt, die den Vereinigungsprozess kritisch sehen? Oder sind transnationale Listen für den Vertiefungs- bzw. Demokratisierungsprozess der EU gar nicht wünschenswert?

Ich habe keine Antwort. Ich weiß nur, dass ich die EU als eine unglaubliche Chance sehe und ich es wichtig finde, die EU als gemeinsames Projekt über die Landesgrenzen hinweg zu denken. Und ich bin überzeugt davon, dass es wichtig ist, dass wir wählen gehen und unsere Stimme mit Vernunft setzen. Der deutsche Fotograf und Pro-EU-Aktivist Wolfgang Tillmans hat es in einem Interview in DIE ZEIT treffend formuliert: „Das Europäische Parlament ist ein mittlerweile mächtiger Ort, an dem das, was in der EU schlecht läuft, verbessert werden kann, in dem Fortschritt aber auch verhindert werden kann. 20 bis 30 Prozent der EU-Abgeordneten sind schon heute europafeindlich eingestellt.“

Unter dem Motto „Act for Democracy!” hat Tillmans zusammen mit dem niederländischen Architekten Rem Koolhaas Bürgerinnen und Bürger der EU dazu eingeladen, sich kreativ mit der EU auseinanderzusetzen. Ziel ist eine Imagekampagne für die EU. Das Ergebnis sollen beispielsweise Design-Skizzen, Filme oder Texte sein, die sich mit der Arbeitsweise der EU beschäftigen und/oder sich die Frage stellen, wie ein Leben ohne die EU aussehen würde.

Ich sehe eine große Chance darin, sich mit der EU ästhetisch auseinanderzusetzen. Ich bin überzeugt davon, dass uns das die Schönheit von Frieden und Gemeinschaft über Landesgrenzen hinweg näher bringt. Nicht zuletzt weil es uns zeigt, dass Großartiges möglich ist, wenn wir zusammenarbeiten.

 


Autorin: Hannah Strauss | Foto: Héctor Rodríguez